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»Du solltest ihn besser abfangen, Morann. Du weißt doch, wie er ist.« Morann Mac Goibnenn blickte schmunzelnd zu seiner Frau Freya auf und nickte.
Es war das Ende eines warmen und ruhigen Sommers. Auf der ganzen Welt, so schien es, herrschte in diesem Jahr Frieden. Vor sieben Jahren hatte Brian Boru, der aufstrebende Warlord von Munster, zusammen mit einigen Wikingern aus Waterford einen Überfall auf den Hafen versucht. Vor zwei Jahren hatte der Hochkönig dem Ort einen weiteren kurzen und schrecklichen Besuch abgestattet. Aber im vergangenen und in diesem Jahr war alles ruhig gewesen. Keine Kriegsschiffe, kein Lärm heranjagender Pferdehufe, keine bedrohlichen Feuer, kein Waffengeklirr: Der Hafen von Dyflin war unter einem neuen König namens Sitric ein Ort ruhigen Handels geworden. Es wurde Zeit, an Familienfreuden und an die Liebe zu denken. Und da Morann in dieser Hinsicht nicht klagen konnte, war es Zeit, in dieser Hinsicht auch für seinen Freund Harold zu sorgen.
Was war nur los mit ihm? War es nur Nachlässigkeit, wie er behauptete, oder war Schüchternheit der Grund, warum Harold keine Begegnungen mit hübschen Mädchen hatte? »Nur wenn’s nicht darum geht, dass ich wieder irgendeine Frau kennen lernen soll«, hatte er gesagt, als Morann ihn eingeladen hatte. Schon ein Jahr zuvor hatten sie einmal versucht, ihn mit einem Mädchen bekannt zu machen. Damals hatte er den ganzen Abend lang kein Wort geredet. »Ich wollte nicht, dass sie sich falsche Hoffnungen macht«, hatte er anschließend erklärt, worauf Morann verständnislos den Kopf schüttelte und seine Frau die Augen verdrehte. Nun war es an der Zeit, einen neuen Versuch zu wagen. Diesmal hatte Freya das Mädchen ausgesucht: Astrid, eine Verwandte von ihr. Den ganzen Vormittag hatte sie ihr von Harold vorgeschwärmt, hatte ihr alles über ihn erzählt, das Gute wie das Schlechte. Obwohl der Norweger nicht die geringste Ahnung hatte, war sie bereits mehrmals unten gewesen, wo er arbeitete, und hatte ihn sich angesehen. Um das Problem mit Harolds Schüchternheit zu lösen, war man übereingekommen zu sagen, sie sei unterwegs nach Waterford, wo ihr Verlobter wohne.
Am liebsten hätte Morann seinen Freund mit einer so guten Frau wie seiner eigenen verheiratet gesehen. Er blickte zärtlich zu ihr auf. Auch wenn es zwei Volksstämme, den keltischen und den skandinavischen, in Irland gab – und die Barden sie bei der Schilderung ihrer Schlachten zu unerbittlichen Feinden: Kelten gegen Wikinger oder »Gaedhil und Gaill« stilisieren mochten –, so war diese Unterscheidung in der Wirklichkeit nie so einfach gewesen. Obwohl die Wikinger–Häfen zweifellos nordische Enklaven waren, hatten die Nordmänner seit ihrer Ankunft Frauen von der Insel geheiratet und die irischen Männer sich Skandinavierinnen zur Frau genommen.
Freya war gekleidet, wie es eine gute skandinavische Ehefrau zu sein hatte – mit schmucklosen Wollstrümpfen, Schuhen aus Leder und einem Kleid mit Gürtel über einem leinenen Untergewand. Von der Perlmuttschließe an ihrer Schulter hingen an einer silbernen Kette zwei Schlüssel, eine kleine bronzene Nadeldose und eine kleine Schere. Ihr hellbraunes Haar war aus der breiten Stirn streng nach hinten gebunden und unter einem Haarnetz verborgen. Nur Morann kannte die Feuer, die unter dem sittsamen Äußeren seiner Frau loderten. Sie konnte genauso wild und lüstern sein, dachte er sich heimlich anerkennend, wie jede beliebige Hure. Das war genau der Typ von Frau, die sein Freund brauchte.
Auch diese Astrid war Heidin. Obwohl ihre Nachbarn in Fingal Christen waren, war Harolds Familie heimlich ihren alten Göttern treu geblieben. Moranns Frau war ebenfalls Heidin gewesen, aber als sie ihn heiratete, war sie zum Christentum übergetreten. Darauf hatte er bestanden, denn er fühlte, dass dies der Respekt gegenüber seiner Familie verlangte. Als sie ihn gefragt hatte, was es bedeutete, wenn sie eine Christin wurde, hatte er ihr eine Antwort gegeben, die seines einäugigen Ahnen vor sechs Jahrhunderten würdig gewesen wäre: »Es bedeutet, dass du tust, was ich dir sage.« Er musste grinsen, als er wieder daran dachte. Aber fünf Jahre glückliche Ehe und zwei Kinder hatten ihn eines Besseren belehrt.
Sicher hatte Freya wieder ein herrliches Mahl zubereitet. Sie lebten nach Wikingerart: ein bescheidenes Frühstück am Morgen, danach nichts mehr bis zur Hauptmahlzeit des Tages am Abend. Zu Beginn eingelegter Hering und frischer Fisch aus der Flussmündung, zwei Sorten frisch gebackenes Brot; als Hauptgang geschmortes Kalbfleisch mit Lauch und Zwiebeln; zum Abschluss Quarkkäse und Haselnüsse. Das Ganze wurde mit Met und einem guten, per Schiff aus Frankreich importierten Wein begossen. Das Eintopfgericht garte in einem Kessel, der über dem zentralen Herdfeuer im großen Hauptraum des Hauses hing. Er konnte es bis in seine Werkstatt riechen.
»Soll ich mich jetzt auf den Weg machen?«, fragte er Freya. Sie nickte. Und so begann er die verschiedenen Gegenstände auf dem Tisch vor sich aufzuräumen: die Hand– und Nadelbohrer, Pinzetten, Hämmer und die kleine flache Knochenplatte – die Zeichenschablone –, in die er grobe Entwürfe für künftige Metallarbeiten eingeritzt hatte. Sein Talent war nicht zu verkennen. Bereits in dieser groben Vorarbeit mit ihren komplizierten, ineinander geflochtenen Strukturen war das kunstvolle Verbinden von abstrakten, durcheinander wirbelnden Mustern der alten Kunst der Insel mit den schlangenförmigen, tierischen Formen zu erkennen, die bei den Nordmännern so beliebt waren. Unter seinen geschickten Händen würden schon bald grob stilisierte wikingische Seeschlangen mit keltischen kosmischen Mustern verwoben werden, die Männer und Frauen gleichermaßen begeisterten.
Neben seiner Werkbank befanden sich in einer verschließbaren Kassette, die sauber in verschiedene Gefache unterteilt war, alle möglichen kuriosen Dinge. Da gab es Stücke von schwarzem Stein, genannt Jett, der aus der britischen Wikingerstadt York importiert worden war; ein anderes Gefach enthielt Bruchstücke von buntem römischem Glas, das in London ausgegraben worden war und zur Verzierung verwendet wurde. Daneben gab es Perlen, dunkelblaue, weiße oder gelbe, zur Herstellung von Armketten. Morann verstand sich auf alles: auf Kupferschnallen, silberne Schwertgriffe, goldene Armreife; er konnte mit Goldfiligran verzieren, mit Silber punzen, jede Art von Schmuck und Ornamenten herstellen.
Außerdem befanden sich in seiner Kassette auch kleine Stapel von Münzen. Neben dem alten Ringgeld und geprägtem Silber verwendeten die wikingischen Kaufleute von Dyflin bei ihren Transaktionen Münzen aus ganz Europa, obwohl davon geredet wurde, dass sie vorhatten, auch hier in Dyflin ihre eigene Münzstätte einzurichten, wie es die Briten in ihren Städten taten. Morann besaß einige alte Geldstücke aus den Münzenstätten von Alfred dem Großen in England und sogar ein zweihundert Jahre altes, auf das er besonders stolz war: Es stammte von Karl dem Großen, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.
Nun räumte er die Gegenstände auf seiner Werkbank sorgsam in die mit Eisen beschlagene Kassette, verschloss sie und übergab sie seiner Frau, die sie im Innern des Hauses verwahrte.
Der Arbeitstag ging seinem Ende zu. Er spazierte an den Läden und Werkstätten von Kammschneidern und Schreinern, Gurtmachern und Edelsteinhändlern vorbei. Überall sprang ihm der geschäftige Wohlstand der Wikingerstadt in die Augen. Er kam an der glühenden Esse eines Grobschmieds vorüber und schmunzelte – die Beschäftigung seiner Vorfahren. Aber man musste zugeben, dass die norwegischen Eindringlinge handwerklich sogar noch besser mit Eisen und Stahl umzugehen wussten als die kriegerischen Menschen auf der Insel. Als er in die Straße einbog, die Fish Shambles – also »Fischschlachtfeld« – genannt wurde, in der der Fischmarkt, nach dem sie benannt war, bereits geschlossen war, erblickte er einen Händler, der ihn mit respektvollem Nicken grüßte. Dieser Kaufmann handelte mit der allerkostbarsten Ware dem gelben Bernstein, der mit einem Langschiff des Ostseehandels den weiten Weg aus Russland kam. Nur wenige der Juweliere in Dyflin konnten es sich jedoch leisten, Bernstein zu kaufen, und er, Morann, war einer von ihnen.
Morann Mac Goibnenn. Im Irischen wurde der Name wie »Mocgovnan« ausgesprochen und bedeutete »Sohn des Schmieds« – denn sowohl sein Vater als auch sein Großvater hatten Goibniu mit Namen geheißen. Erst in der letzten oder vorletzten Generation begann man diese Form individueller Familiennamen zu verwenden. Ein Mann konnte Fergus, Sohn des Fergus, heißen und vielleicht einem großen königlichen Stamm wie den O’Neills angehören, aber der Stammesname war bisher noch kein Familienname gewesen. Doch nun waren Morann und seine Kinder die Familie namens Mac Goibnenn.
Und dieser Name wurde bei den irischen wie den wikingischen Stadtbewohnern gleichermaßen mit Respekt genannt.
Obwohl er noch jung war, hatte sich der Schmuckmacher bereits als Meister seiner Kunst erwiesen. Daneben galt er auch als vorsichtig, schlau und durchtrieben, eine Persönlichkeit, auf deren Rat man in dem Wikingerhafen hörte. Sein Vater war zwei Jahre, nachdem er zum ersten Mal nach Dyflin kam, gestorben, und das war für ihn ein großer Schmerz gewesen; aber es erfüllte Morann mit Freude, wenn er daran dachte, wie stolz sein Vater wäre, wenn er ihn heute sehen könnte. Beinahe unbewusst – wie um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten – hatte er nach dem Tod des Alten begonnen, dessen Angewohnheit zu imitieren, die Leute mit einem Auge zu fixieren, wenn er verhandelte oder sie aus einem bestimmten Grund eingehender musterte. Wenn sich seine Frau darüber beklagte, hatte er nur gelacht.
Am Ende der Fish Shambles gelangte er auf den großen Holzquai hinaus. Gerade wurde eine Gruppe Sklaven, an Eisenringen aneinandergekettet, die sie um den Hals trugen, von einem der Boote heruntergeführt. Er warf ihnen einen flüchtigen, doch kritisch prüfenden Blick zu. Sie wirkten kräftig und gesund. Dyflin war der wichtigste Sklavenmarkt auf der Insel, und regelmäßig trafen neue Schiffladungen aus dem großen britischen Sklavenhafen Bristol ein. Die Engländer gaben, da sie seiner Ansicht nach recht langsam und gefügig waren, gute Sklaven ab. Mit raschen Schritten ging Morann den Quai entlang; er wusste, wo er seinen Freund antreffen würde. Und da stand er tatsächlich. Er winkte ihm zu. Harold sah ihn und grinste.
Wunderbar. Er schien nichts zu ahnen.
Es dauerte eine Weile, bis sich Harold vom Quai weglocken ließ. Aber er war glücklich, dass sein Freund gekommen war. Denn er wollte, dass Morann die große Arbeit bewunderte, an der er gerade saß.
»Wirklich faszinierend«, bestätigte Morann, der tief beeindruckt war.
Es war ein Wikingerschiff. In der gesamten Wikingerwelt war dieser Hafen inzwischen für den Schiffsbau berühmt. An den skandinavischen und britischen Küsten gab es zwar viele Schiffswerften; aber wenn man das Beste wollte, wandte man sich nach Dyflin.
Wie jeder andere in der Stadt wusste auch Morann bereits, dass das neueste Schiff etwas ganz Besonderes war; aber heute hatten sie einen Teil der Gerüste entfernt, die es bisher umschlossen, und so konnte man nun die schnittigen Formen des Schiffs sehen.
»Fast einen ganzen Meter länger als alles, was je in London oder York gebaut wurde«, erklärte Harold voller Stolz. »Komm, schau es dir mal von innen an.« Er trat zu einer Leiter, und Morann folgte ihm; es erstaunte ihn immer wieder aufs Neue, dass Harold sich trotz seines Hinkens genauso schnell wie jeder andere bewegen konnte. Flink erklomm er die Leiter und sprang über die Bordwand des Schiffs. Da Morann ihn erst kennen gelernt hatte, als der junge Norweger bereits im Hafen arbeitete, hatte er jedoch nicht die geringste Ahnung von den Jahren schmerzvollen Trainings und harter Arbeit, die zu diesem Ergebnis geführt hatten.
Seit jener Begegnung mit Sigurd, der ihm Rache geschworen hatte, war es immer derselbe Tagesablauf. Schon am frühen Morgen war er auf den Beinen und half seinem Vater auf dem Hof. Mittag begann dann ein strenges Programm. Zuerst kam das körperliche Training. Er trieb sich wie besessen an und kannte kein Erbarmen. Allen Schmerz und alle Demütigung bei seinem ständigen Stolpern und Stürzen ignorierend, zwang sich der kleine Junge auf dem Bauernhof, so schnell zu gehen, wie er nur konnte, wobei er sein verkrüppeltes Bein mitzog. Schon bald konnte er, wenn auch auf eine ungleichmäßige, hüpfende Weise, rennen. Er konnte sogar weite Sprünge machen, indem er mit seinem gesunden Bein absprang und das lädierte unter sich einzog, während er über ein Hindernis hinwegsetzte. Nachmittags gesellte sich sein Vater gewöhnlich zu ihm. Zuerst hatte ihm sein Vater kleine Waffen aus Holz gebastelt: eine Streitaxt, ein Schwert, einen Dolch und einen Schild. Zwei Jahre lang war es wie ein Spiel, das er mit ihm spielte und bei dem er dem kleinen Harold das Stoßen und Parieren, Stechen, Hauen und blitzschnelles Ausweichen zur Seite beibrachte. »Spring zur Seite! Weich zurück! Spring vor! Halt die Stellung! Stoß zu!«, schrie er immer wieder. Und blitzschnell hin und her federnd, sich duckend oder seine Spielzeugaxt schwingend, exerzierte der Junge jede Übung durch, die sein Vater nur ersinnen konnte. Mit zwölf Jahren besaß er bereits beachtliches Geschick, und sein Vater pflegte zu lachen: »Dir bin ich nicht mehr gewachsen!« Mit dreizehn bekam Harold seine ersten echten Waffen. Sie waren noch leicht, aber ein Jahr später gab ihm sein Vater bereits schwerere. Mit fünfzehn gestand er seinem Sohn, dass er ihm mehr nicht beizubringen wusste. Er schickte ihn zu einem Freund an der Küste, der die Kampfeskunst aufs Höchste beherrschte. Dort lernte Harold sich seine physische Abnormität sogar zunutze zu machen, um unkonventionelle Schläge auszuteilen, die kein Gegner erwarten würde. Mit sechzehn war er ein perfekter Kämpfer.
»Kurioserweise«, bemerkte sein Vater einmal, »hat dir dieser Däne, indem er drohte, dich eines Tages umzubringen, vielleicht sogar einen Gefallen getan. Erinnere dich, was du damals warst, und sieh dir an, was heute aus dir geworden ist.«
Harold sagte nichts, denn er wusste, dass er zwar großes Geschick entwickelt hatte, aber nach wie vor ein Krüppel war.
»Sieh dir nur diese herrlich feinen Linien an«, rief Harold Morann zu, als der Kunstschmied über die Leiter heraufgeklettert kam. Die langen geklinkerten Rumpflinien des Schiffs schossen gleichmäßig und mit großem Schwung zu dem mächtigen, weit in die Höhe gezogenen Bug vor. Man ahnte schon, wie pfeilschnell dieses Boot über das Wasser dahinsausen würde. »Der Raum für die Ladung« – Harold zeigte auf die leere Mitte des riesigen Seefahrzeugs – »ist fast ein Drittel breiter als alles andere, was derzeit die Meere kreuzt.« Dann zeigte er auf den Boden des Schiffs hinab, wo das riesige Rückgrat des Kiels wie eine Schwertklinge entlanglief. »Und doch ist der Tiefgang immer noch flach genug für die wichtigsten Flüsse der Insel.« »Aber weißt du auch, was das wahre Geheimnis von einem Langschiff wie diesem ist, Morann? Das Geheimnis seiner Wendigkeit, wenn es unter Segel auf hoher See manövriert?«
Sie waren stabil und seetüchtig. Sie kenterten nie. So viel wusste der Goldschmied. Aber der Norweger fuhr mit einem Grinsen fort: »Ich will es dir verraten: Der Rumpf ist elastisch, Morann.« Er machte eine schlängelnde Armbewegung. »Genauso wie du die Kraft des Winds gegen das Segel drücken und den Mast entlang nach unten laufen und die Kraft des Wassers gegen die Bordwände drücken fühlst, so kannst du auch noch etwas anderes fühlen. Der Kiel selbst biegt sich, er passt sich an die Form der Wellen an. Das ganze Schiff wird, wenn es vor dem Wind segelt, eins mit dem Wasser. Es ist kein Schiff, Morann, es ist eine Schlange.« Er lachte vor Begeisterung. »Eine riesige Seeschlange!«
Wie schmuck er aussieht mit dem langen roten Haar, ganz wie sein Vater, dachte der Kunstschmied bei sich, und mit seinen strahlend blauen Augen, so glücklich in seinem Langschiff. Einmal hatte Freya ihn gefragt: »Hast du dich eigentlich nie gewundert, warum Harold den Bauernhof verlassen hat und nach Dyflin gekommen ist, um sich Arbeit zu suchen?«
»Er liebt eben den Schiffsbau«, hatte er geantwortet. »Der steckt ihm im Blut.«
Und wenn mehr dahinter steckte, als Morann Mac Goibnenn vermutete, so hatte er aus dem Mund seines jungen Freundes nie etwas davon erfahren.
Flarold war in jenem Sommer, als sie ihm das Mädchen vorstellten, fast siebzehn gewesen. Sie kam von jenseits des Meeres, von einer der Inseln im Norden – ein Mädchen mit guten Vorfahren, hatten sie ihm erklärt, deren Eltern gestorben seien und das sie der Fürsorge ihres Onkels hinterlassen hätten. »Er ist ein feiner Mann«, hatte sein Vater ihm erzählt, »und er hat sie zu mir geschickt. Sie wird einen Monat lang unser Gast sein, und du wirst dich um sie kümmern. Sie heißt Helga.«
Sie war ein blondes, schlankes Mädchen mit blauen Augen, ein Jahr älter als er. Ihr Vater war Norweger, die Mutter Schwedin gewesen. Ihr gelbes Haar umrahmte ihre Wangen, drückte sie zusammen wie zwei Hände, die ihr Gesicht in ihre Mitte nahmen, bevor ihre Lippen geküsst wurden. Sie lächelte nicht oft, und ihre Augen hatten einen leicht entrückten Blick, als sei sie mit der Hälfte ihrer Gedanken woanders. Und doch schwebte ein Hauch von Sinnlichkeit um ihren Mund, den Harold leicht rätselhaft und erregend fand.
Im Umkreis des Hauses wirkte sie ruhig und zufrieden. Zwei von Harolds Schwestern waren verheiratet und inzwischen nicht mehr da, aber seine noch verbliebenen Schwestern kamen recht gut mit ihr aus. Niemand hatte Gründe, sich zu beklagen. Abgesehen davon, dass er sich an jeder Kurzweil beteiligen musste, die die Mädchen an den Abenden für sich ersannen, bestanden seine eigenen Pflichten darin, sie hin und wieder zu einem Ausritt mitzunehmen. Einmal hatte er ihr die verschiedenen Viertel von Dyflin gezeigt. Häufiger ritten sie jedoch hinaus aufs Land oder machten Wanderungen an der sandigen Küste. Bei diesen Gelegenheiten erzählte sie ihm in ihrer seltsam entrückten und doch unbeschwerten Art vom Treiben auf dem Hof, von dem Käse, den sie dort zu bereiteten, oder von dem Schal, den sie gerade mit seiner Mutter für seine Tante webte. Sie fragte ihn nach seinen Vorlieben und Abneigungen, nickte dazu ruhig und sagte immerzu »ja, ja«, während sie ihm jede einzelne Auskunft entlockte, so dass er allmählich glaubte, dass sie, wenn er zu ihr sagte, seine Lieblingsbeschäftigung sei es, den Menschen die Köpfe abzuhacken, vermutlich auch nur nicken und »ja, ja« sagen würde. Aber dennoch waren die Momente, die er mit ihr verbrachte, äußerst angenehm.
Als er Helga über ihr eigenes Leben ausfragte, erzählte sie ihm von dem Hof ihres Onkels und auch von ihrer frühen Kinderzeit im Norden. Er fragte sie, was sie am meisten vermisste. »Den Schnee und das Eis«, antwortete sie mit einem Anflug wahrer Begeisterung, die größer war als jede andere, die er bisher bei ihr erlebt hatte. »Schnee und Eis sind wirklich wunderbar«, sagte er. »Ich liebe es, durch aufgeschlagene Löcher im Eis zu angeln.« Sie nickte: »Und ich finde es ganz toll, mit dem Boot aufs Meer hinauszufahren.«
Einmal hatte er sie, um ihr eine Ausfahrt mit dem Boot zu bescheren, an einem sonnigen Tag vom Strand aus zu der kleinen Insel mit dem hohen, gespaltenen Felsen hinter der nördlichen Landzunge hinausgerudert. Sie hatten sich zusammen an den kleinen Strand gesetzt, und da hatte sie zu seiner großen Überraschung ganz ruhig gesagt: »Jetzt fände ich es toll, zu schwimmen. Du nicht auch?« Und sie hatte sich, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, splitternackt ausgezogen und war ins Meer hinausgewatet. Er war ihr nicht gefolgt – vielleicht aus Schüchternheit oder weil er sich wegen seines Körpers schämte. Aber er hatte immerzu ihren schlanken Leib und ihre kleinen hoch aufgerichteten Brüste angestarrt und sich im Stillen gedacht, dass es wirklich aufregend sein musste, sie zu besitzen.
Ein paar Tage danach hatten seine Eltern ihn ins Haus gerufen, als die Mädchen draußen beschäftigt waren, und sein Vater hatte ihn geheimnisvoll schmunzelnd gefragt:
»Wie fändest du es, Harold, wenn Helga deine Braut wäre?« Und noch bevor Harold sich eine Antwort ausdenken konnte, fuhr er fort: »Deine Mutter und ich glauben nämlich, sie wäre bestens geeignet.«
Er glotzte sie an und wusste kaum, was er sagen sollte. Der Gedanke war in der Tat erregend. Er musste an ihren Körper denken, als er ihr zugesehen hatte, wie sie wieder aus dem Meer gestiegen kam und wie das Wasser an ihren in der Sonne funkelnden Brüsten herablief.
»Aber«, stammelte er schließlich, »würde sie mich denn haben wollen?«
Sein Vater und seine Mutter warfen einander ein strahlendes, verschwörerisches Schmunzeln zu, und diesmal antwortete seine Mutter: »Und ob. Sie hat mit mir gesprochen.«
»Aber ich dachte…« Er dachte an sein Bein. Aber sein Vater fiel ihm ins Wort.
»Sie mag dich sehr, Harold. Das alles geht von ihr aus. Als ihr Onkel mich bat, sie hier aufzunehmen, hat ihn vielleicht auch der Wunsch nach einer Verbindung mit unserer Familie bewogen; aber du bist noch jung, und ich hatte gar nicht bedacht, dass die Zeit bereits gekommen ist, wo du an solche Dinge denkst. Aber wir mögen das Mädchen. Wir mögen sie sogar sehr. Und als sie sich an deine Mutter wandte, um darüber zu sprechen…« Er schmunzelte wieder. »Die Entscheidung liegt bei dir, Harold. Du bist mein einziger Sohn. Dieser Hof wird eines Tages dir gehören. Da kannst du dir die Mädchen in aller Ruhe aussuchen, und du solltest auf alle Fälle keine Frau heiraten, die du nicht magst. Aber ich muss sagen, diese hier ist gar nicht übel.«
Harold blickte seine glücklichen Eltern an und fühlte sich von einer mächtigen Wärme durchströmt. War es wirklich möglich, dass dieses Mädchen ihn erwählt hatte? Er wusste, dass er körperlich kräftig war, aber trotz dieser wundervollen Erkenntnis übermannte ihn nun ein ganz neues, prickelndes Gefühl von Kraft und Erregtheit, wie er es zuvor noch nie gekannt hatte.
»Sie hat wirklich gefragt, ob sie mich heiraten darf?« Sie nickten. Seine Behinderung spielte also keine Rolle? Aber was würde es bedeuten, verheiratet zu sein? Er hatte keine genaue Vorstellung. »Ich glaube«, begann er, »ja, ich glaube, das fände ich gut.«
»Herrlich«, rief sein Vater aus und wollte schon aufspringen und seinem Sohn einen Arm um die Schulter legen; aber diesmal war es seine Frau, die ihm behutsam ihre Hand auf den Arm legte, wie um ihn zu warnen.
»Er sollte noch ein paar Tage warten«, sagte sie ruhig. »Wir haben doch darüber gesprochen.«
»Ach ja, richtig.« Sein Vater machte ein leicht enttäuschtes Gesicht, doch dann meinte er lächelnd zu ihr: »Du hast natürlich Recht.« Und darauf zu Harold: »Du hast ja gerade erst von der Sache gehört, mein Sohn. Das alles ist noch ganz neu für dich. Lass dir die Sache erst ein paar Tage durch den Kopf gehen. Es gibt keinen Grund zur Eile. Die Zeit solltest du dir nehmen, schon um deiner selbst willen.«
»Und auch um Helga willen«, ermahnte seine Frau ihn sanft.
»Ja, natürlich. Auch ihretwegen.« Und nun erhob sich sein Vater tatsächlich und legte seinen Arm um ihn, und Harold spürte die mächtige Wärme seiner liebevollen Nähe. »Gut gemacht, mein Sohn«, brummte er. »Ich bin ja so stolz auf dich.«
Und so müsste schon viel passieren, dachte Harold bei sich, damit er nicht schon diesen Winter verheiratet sein würde.
* * *
Zwei Tage später war es passiert. Gerade hatte er seinen Vater draußen auf dem Feld verlassen und kehrte etwas früher als erwartet zurück. Vor einer Weile hatte er seine Schwestern in der großen Holzscheune verschwinden sehen. Außer einer Sklavin, die neben dem Schuppen einen Korb flocht, war niemand in der Nähe, als er sich dem Eingang des hohen, strohbedeckten Hauses näherte. Und er wollte soeben unter dem Türbalken in den dämmrigen Raum hineinschlüpfen, als er die Stimme seiner Mutter vernahm.
»Aber bist du auch sicher, Helga, dass du glücklich sein wirst?«
»Ja, ja. Ich finde diesen Hof toll.«
»Ich bin wirklich froh, dass er dir gefällt, Helga. Aber vielleicht genügt es nicht, dass dir dieser Hof gefällt. Gefällt dir denn auch mein Sohn?«
»Ja, ja. Ich finde ihn toll.«
»Er ist mein einziger Sohn, Helga. Ich möchte, dass er glücklich ist.«
»Ja, ja. Ich mach ihn schon glücklich.«
»Aber was macht dich so sicher, Helga? In der Ehe geht es um viele Dinge. Da geht es um Kameradschaft. Um Liebe…«
Lag vielleicht ein Anflug von Ungeduld, eine Härte, etwas, was er bisher noch nicht herausgehört hatte, in der Stimme des Mädchens, als es antwortete?
»Es war doch Euer Mann, der zu meinem Onkel kam, ja? Und was passiert, als er hört, dass mein Onkel eine Nichte hat, die er aus dem Haus haben will, um mehr Platz zu schaffen für die vier Töchter, die er selber hat? Da gibt er meinem Onkel Geld, damit er mich hierherbringt. Weil er seinen Sohn verheiraten will, der ein Krüppel ist? Das stimmt doch, ja?«
»Das mag schon sein, aber…«
»Und ich bin gekommen, und ich mach’ alles, was Ihr wollt, und dann sagt Euer Mann vor drei Tagen zu mir: ›Willst du ihn heiraten?‹, und ich sag ›Ja, ja‹. Weil er Enkel haben will von seinem einzigen Sohn und Angst hat, dass keine seinen Krüppelsohn heiraten will.«
Dann entstand eine Pause. Er erwartete, dass seine Mutter all dies heftig abstreiten würde, aber sie tat es nicht.
»Findest du meinen Sohn…?«
»Seine Beine?« Es war, als könnte er hören, wie sie mit den Achseln zuckte. »Ich hab zwar gedacht, ich würde mal einen Jungen mit zwei geraden Beinen heiraten. Aber er ist kräftig.«
»Wenn zwei Menschen heiraten« – nun klang die Stimme seiner Mutter besorgt, beinahe flehend –, »dann muss Wahrheit zwischen ihnen herrschen.«
»Ja? Ihr und Euer Mann, ihr sagt nichts. Mein Onkel sagt nichts. Aber ich hör meinen Onkel zu meiner Tante sagen, Euer Mann hat Angst, dass eines Tages jemand kommt und Euren Sohn umbringt, bevor er euch Enkelkinder schenkt, und dass das der Grund ist, warum Euer Mann mich meinem Onkel möglichst rasch abkaufen will. Ist das wahr? Wir sprechen doch gerade von der Wahrheit, ja?«
»Mein Sohn versteht sich zu verteidigen.«
Harald wandte sich von der Haustür ab. Er hatte genug gehört.
Schon am nächsten Tag war er nach Dyflin gegangen. Dank seiner Arbeiten rings um den Bauernhof war er ein leidlich guter Zimmermann. Es war ihm gelungen, in der Bootswerft eine Anstellung zu bekommen. Und am späten Nachmittag hatte er eine vorläufige Unterkunft im Haus eines Goldschmieds gefunden. Als er noch am gleichen Abend auf den Hof zurückgekehrt war, hatte er seinen sprachlosen Eltern erklärt: »Ich verlasse euch.«
»Aber was ist mit dem Mädchen? Deiner Heirat?«, hatte sein Vater gefragt.
»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich will sie nicht.«
»Im Namen aller Götter, warum denn nicht?«, brüllte Olaf.
Konnte er seinem Vater denn sagen, dass er die Wahrheit kannte, dass das Vertrauen zwischen ihnen gebrochen war, dass er erniedrigt und gedemütigt wurde? Falls er überhaupt jemals heiraten sollte, was er bezweifelte, dann würde er sich das Mädchen allein aussuchen – so viel stand fest. »Ich will sie nicht heiraten. Das ist alles«, sagte er. »Die Entscheidung liegt bei mir. Das waren deine Worte.«
»Du hast keine Ahnung, was zu deinem Besten dient«, zischte sein Vater. Seine Enttäuschung stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er seinem Sohn sogar Leid tat. Aber das machte die Sache auch nicht besser.
»Deshalb brauchst du uns doch nicht zu verlassen«, flehte ihn die Mutter an.
Aber er tat es dennoch, auch wenn er weder in diesem Moment, noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt erklärte, weshalb.
Und so war er nach Dyflin gekommen. Inzwischen wohnte er bereits seit einem Jahr bei Morann Mac Goibnenn. Er hatte sich in der Bootswerft als so nützlich erwiesen, dass er bis zum Werkmeister aufgestiegen war. Man wusste, dass er der Erbe eines großen Bauernhofs in Fingal war; aber er begab sich nur selten dorthin, und es hieß, er habe mit seinem Vater nicht das beste Verhältnis. Er arbeitete hart, war ein guter Arbeitskollege, aber obwohl er sich in der Gesellschaft von Frauen durchaus wohl zu fühlen schien, sah man ihn nie mit einer ausgehen.
* * *
Der Sonnenuntergang sandte bereits seine rote Glut über das Wasser, als Harold und Morann das große Wikingerschiff verließen und noch einen kurzen Bummel über den Holzquai machten, wo noch andere Langschiffe vertäut waren. Jenes, das die Sklaven aus Bristol gebracht hatte, war gerade mit riesigen Ballen von Fellen und Wolle beladen worden. Die beiden jungen Männer setzten ihren Weg fort und gelangten zu der Kreuzung , die zur Fish Shambles führte.
»Erinnerst du dich an mich?«
Stutzend blickte Morann dem schwarzhaarigen jungen Mann ins Gesicht, der lässig an einem der Ballen lehnte, über die sie benähe gestolpert wären. Er trug einen dunklen Umhang, der ihm bis zu den Knien reichte. Sein Ledergürtel war so eng geschnallt, dass er unter dem Mantel deutlich einen schlanken und muskulösen Körper erahnen ließ. Sein schwarzer Kinnbart war über der Brust zu einer schartigen Spitze getrimmt. Der Kunstschmied fragte sich verwundert, wer er wohl sein mochte.
»Immer noch ein Krüppel, wie ich sehe.«
Harold war jäh stehen geblieben, und auch Morann blieb stehen.
»Ich bin zufällig gerade nach Dyflin gekommen.« Er lehnte lässig an den großen Frachtkörben und war offenbar ohne Schutz, als könnte ihm von dem Mann, den er gerade beleidigte, keine größere Gefahr drohen als von einer vorübersummenden Fliege.
»Guten Abend, Sigurd«, sagte Harold mit einer Gelassenheit, die den Kunstschmied überraschte. »Dann bist du also wegen deines Schwurs gekommen?«
»Eigentlich hatte ich daran gedacht«, sagte der Fremde kalt. »Aber ich denke, ich warte lieber noch.«
»Als ich dich vor mir sah, wusste ich, dass mir keine Gefahr droht«, bemerkte Harold. »Denn wie ich höre, greifen die Männer aus deiner Familie nur von hinten an.«
Nur für einen Augenblick schien es Morann, als sei der Fremde zusammengezuckt. Seine Hand fuhr – vielleicht unbewusst – zu dem Dolch an seinem Gürtel. Aber obwohl seine langen Finger ihn flüchtig umspannten, streckten sie sich sofort wieder aus, und seine Hand sank zurück an sein Bein.
»Ich habe Erkundigungen über dich eingeholt«, bemerkte er. »Und ich bin wirklich sehr enttäuscht. Anscheinend hast du überhaupt keine Frau. Was meinst du: Könnte der Grund dafür sein, dass du ein Krüppel bist?«
Nun platzte Morann der Kragen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich irgendeine Frau außer einer Hure nach dir umdreht, du schwarzes Stück Dreck«, knurrte er.
»Ach, sieh da, der Juwelier.«
Der Fremde machte eine leichte Verbeugung in seine Richtung. »Ein ehrenwerter Mann. Mit Euch, Morann Mac Goibnenn, hab ich keine Rechnung zu begleichen. Weiß er eigentlich«, fragte er Harold dann, »wer ich bin?«, und als Harold den Kopf schüttelte, sagte er, »das hab ich mir gedacht.«
»Ich könnte dich jetzt sofort zum Kampf fordern«, sagte Harold leichthin. »Es hat keinen Zweck, dass ich sage, ich fordere dich morgen früh zum Kampf; denn als wir dies das letzte Mal vereinbarten, ist dein Großvater feige geflüchtet.«
»Aber eigentlich«, meinte der dunkelhaarige Kerl nachdenklich, »finde ich, dass es mir mehr Spaß machen würde, dich zu töten, wenn du eine Familie hast, die dann um dich trauert. Kinder, denen man dann sagen muss, dass ihr Vater besiegt und getötet wurde. Vielleicht werden wir sie, wenn’s an der Zeit ist, dann gleich auch noch umbringen.« Er nickte nachdenklich und fragte dann in einem etwas fröhlicheren Ton: »Meinst du nicht, dass des vielleicht doch noch eine Chance gibt, dass du heiratest?«
Harold trug ein Messer an seinem Gürtel. Er riss es heraus, ließ es geschickt von einer Hand zur ändern springen und befahl Morann, zur Seite zu treten.
»Nein, Sigurd«, zischte er, »ich töte dich jetzt gleich.«
»Oh.« Der Dunkelhaarige richtete sich hoch auf, aber anstatt sich ihm entgegenzuwerfen, machte er einen Sprung zur Seite. »Trotzdem wär’s mir lieber, dass du Zeit hast, dir die Sache noch mal zu überlegen. Wie wär’s an deinem Hochzeitstag?«
Dann machte er einen Satz zurück und stand direkt neben den Frachtkörben. Da er sich nicht ein einziges Mal umblickte, schloss Morann, dass er bereits genau wusste, wohin er sich begeben würde. Und tatsächlich rief er im nächsten Augenblick: »Für heute sag ich dir Lebewohl«, verschwand blitzschnell hinter den Körben am Rand des Quais und landete mit einem Sprung in einem kleinen Boot.
»Los, rudert, Leute«, rief er den beiden Männern zu, die sich bereits in dem Boot befanden; und während Harold und Morann vom Quairand aus zusahen, schoss das Boot in raschen Stößen auf die Flussmitte zu. Aus der Kehle des schwarzhaarigen Kerls hallte verächtliches Lachen herüber, und als sich die schwarze Silhouette bereits flussabwärts entfernte, ertönte noch einmal seine Stimme über dem blutroten Wasser, und er rief: »Ich werde versuchen, zu deiner Hochzeit zu kommen.«
Sprachlos standen die beiden Männer noch eine Weile da.
»Was hatte das zu bedeuten?«
»Eine alte Familienangelegenheit.«
»Hat er ernsthaft vor, dich umzubringen?«
»Vermutlich. Aber ich werde ihn töten.« Harold wandte sich um. »Gehen wir jetzt trotzdem noch zu dir zum Abendessen?«
»Ja. Selbstverständlich gehen wir.« Morann zwang sich zu einem Lächeln.
Aber während sie in den länger werdenden Schatten die Fish Shambles hinaufgingen, fragte er sich, wie er die Sache seiner Frau beibringen sollte. Und wie erst dem Mädchen? Wenn der schwarzhaarige Schurke zur Hochzeit erscheint, dachte er, dann sollte lieber ich ihn töten.
* * *
Am Morgen darauf erhielt Osgar Besuch von Caoilinns Vater. Es sollte wie eine rein zufällige Begegnung aussehen, aber Osgar hatte den Verdacht, dass der Handwerker schon eine geraume Weile an der Klostermauer gewartet hatte, bevor er zufällig daherspaziert kam. Als er so vor dem recht kleinen, untersetzten, aber vornehm wirkenden Mann mit der beginnenden Glatze stand, meinte Osgar eine Spur von Verlegenheit in seinem Gebaren zu bemerken.
Sie tauschten ein paar jener scherzhaften Floskeln aus, die der Erörterung eines wichtigen Themas wohl immer vorausgehen müssen.
»Wir werden bald daran denken müssen, für Caoilinn einen Mann zu finden.«
Damit war die Sache ausgesprochen. Osgar starrte den älteren Mann an und fragte sich, was er darauf erwidern sollte.
»Sie wird eine gute Mitgift erhalten«, fuhr sein Verwandter fort. Seit über zweihundert Jahren war kein Vater auf der Insel mehr in der Lage, den alten Brautpreis aufzubringen. Nun mussten die Väter für ihre Töchter Mitgiften finden, was oftmals eine schwere Belastung war – obwohl ein Schwiegersohn von bedeutendem Rang auch einen großen Gewinn darstellen konnte.
Osgar war gewiss eine gute Partie. Daran bestand kein Zweifel. Mit seinen zwanzig Jahren war er ein auffallend gut aussehender junger Mann von athletischer Statur. Er hatte eine gewisse natürliche Eleganz, und er beeindruckte die Menschen gerade mit seiner Zurückhaltung, ja seiner Würde. Viele sahen in ihm schon das künftige Oberhaupt der Ui Fergusa. Nicht nur in der Familie, sondern auch bei den Mönchen im Kloster war er inzwischen eine geachtete Persönlichkeit.
Osgar liebte das kleine Familienkloster sehr. Er war fast genauso stolz darauf wie sein Onkel. »Lasst uns nie vergessen«, pflegte sein Onkel zu sagen, »dass Sankt Patrick höchstpersönlich hierher gekommen ist.«
Es war erstaunlich, zu welchen Dimensionen sich die Legende von Sankt Patrick im Laufe der vergangenen Jahrhunderte entwickelt hatte. Armagh, die Diözese im Norden, die sein Hauptquartier gewesen war, wollte als das älteste und bedeutendste Bistum anerkannt werden. Entsprechend bearbeitete man die Chroniken und Dokumente. Frühere Bischöfe und ihre Gemeinden wurden einfach aus der Geschichte gestrichen; Bischöfe, die lediglich Patricks Zeitgenossen waren, wurden als seine Schüler dargestellt; und so hieß es nun, die Mission aus dem Norden habe sich über das ganze Land erstreckt. Sogar von den Schlangen, die es nie dort gegeben hatte, wurde plötzlich behauptet, der große Heilige habe sie von der Insel verbannt. In Dubh Linn hatte man eine der drei alten Quellen nach ihm benannt und an der betreffenden Stelle eine Kapelle errichtet.
»Und lasst uns ebenso wenig vergessen«, pflegte Osgars Onkel sie zu erinnern, »dass unser aller Ahne Fergus von Sankt Patrick persönlich die Taufe empfing.«
»Aber da war er doch schon tot«, hatte sein ältester Sohn bei einer Gelegenheit taktlos bemerkt.
»Auferstanden von den Toten«, hatte der Abt mit donnernder Stimme entgegnet. »Umso größer das Wunder! Und erinnert euch auch stets daran«, pflegte er sie zu mahnen, »dass es keine besseren Christen und Gelehrten als die auf dieser Insel gegeben hat. Denn wir waren es, die die Flamme des Glaubens am Leben erhielten, als der Rest der Christenheit noch in der Finsternis umherirrte, wir waren es, die die heidnischen Sachsen von England bekehrten.«
Aber diese Vorträge zeigten bei seinen Söhnen kaum Wirkung. Die Knaben des Onkels interessierten sich herzlich wenig für das Familienkloster. Ständig fanden sie Ausreden, um Unterrichtsstunden zu schwänzen. Und während es für Osgar ein Hochgenuss war, alle hundertfünfzig Psalmen auf Lateinisch auswendig zu lernen – eine Leistung, die jeder Novize, der des Schreibens und Lesens unkundig war, vollbringen musste –, waren sie zu nichts anderem fähig, als die jeweiligen Worte mit den Lippen nachzuformen, wenn sie sich den Gebeten der Mönche anschlossen.
Osgars Mutter war gestorben, als er zwölf Jahre alt war, und daraufhin hatte er begonnen, bei seinem Onkel in dem kleinen Kloster zu leben. Es war Osgar gewesen, der die Mönche dazu gebracht hatte, das Innere der Klosterkapelle neu auszuschmücken; es war Osgar, der einige Geschäftsleute von Dyflin dazu überredet hatte, ein neues Kreuz für den Altar zu stiften. Auch schien immer er genau zu wissen, welche Einkünfte von den Pächtern des Klosters fällig waren, wer das Vieh verkaufte oder die Dinge lieferte, die sie benötigten; es war Osgar, der wusste, wie viele Kerzen sie noch in Vorrat hatten und welche Psalmen an welchem Tag gesungen werden mussten. Sogar sein Onkel wurde insgeheim leicht nervös, wenn er in Osgars Gegenwart etwas vergaß. Und ein Jahr zuvor hatte sein Onkel ihn einmal beiseite genommen und zu ihm gesagt: »Ich glaube, du bist derjenige, der eines Tages meine Stelle im Kloster übernehmen sollte, Osgar… Und du könntest trotzdem heiraten, verstehst du.«
Er könnte nicht nur heiraten, sondern mit einer Stellung in Aussicht, die so viel Achtung genoss, würde er auch noch eine höchst attraktive Partie für die Tochter seines Verwandten in Dyflin sein.
Er könnte Caoilinn heiraten! Was für ein wundervolles Gefühl. Tagelang war er über diese Aussicht so glücklich gewesen, dass er das Gefühl hatte, als sei ganz Dyflin mitsamt seiner Bucht in ein göttliches und goldenes Licht getaucht.
Caoilinn und er waren zusammen aufgewachsen. Wenn er in Dyflin weilte, war es ganz natürlich, dass er dem Haus ihres Vaters einen Besuch abstattete. Sie gehörte zur Familie. Das lebhafte Mädchen, das er als Kind gekannt hatte, war nie restlos verschwunden. Wenn sie miteinander einen Spaziergang machten, konnte sie plötzlich auf die Wolken zeigen und darin die verrücktesten Formen erkennen. Einmal, als sie auf dem südlichen Landvorsprung der Bucht standen, hatte sie felsenfest behauptet, sie habe gerade draußen in den Wogen den alten Meeresgott Manannan Mac Lir gesehen; und einen halben Nachmittag lang hatte sie immer wieder »Da ist er!« geschrien. In seiner Unaufmerksamkeit ertappt, hatte er mehrmals hinausgeblickt, während sie sich den Bauch hielt vor Lachen.
Aber einmal war sie zu weit gegangen. Sie machten gerade einen Spaziergang am Nordstrand der Flussmündung und waren weit hinaus bis zu den Sandbänken gewandert, die sich bei Ebbe viele hundert Meter in die Bucht hinaus dehnten. Als allmählich die Flut aufzukommen begann, hatte er gesagt, sie müssten nun umkehren. Sie aber weigerte sich einfach. Er verlor die Geduld und machte sich allein auf den Rückweg. Aber selbst er hatte nicht vorausgesehen, wie rasch und wie stark die Flut an jenem Tag aufkommen würde. Vom Strand aus hatte er gesehen, wie Caoilinn herausfordernd auf einer Sandbank stand und dabei zuerst noch lachte, als das heranströmende Wasser um sie herumwirbelte. Dann versuchte sie zurückzuwaten, aber das Wasser war bereits tiefer, als sie gedacht hatte. Die Wasseroberfläche war übersät mit kabbeligen schäumenden Wellen. Dann sah er, wie sie das Gleichgewicht verlor und die Arme in die Höhe warf; und er war blindlings durch das Flachwasser drauflos gerannt und mit einem Hechtsprung in die reißende Strömung getaucht. Zum Glück war er ein guter Schwimmer. Doch die Strömung hätte auch ihn beinah fortgerissen. Aber es war ihm gelungen, sie zu erreichen, und er schaffte es, ihren schlanken Körper fest an den seinen zu pressen und sie benommen und kreidebleich an Land zurückzubringen. Dort hatte sie eine Zeit lang hustend und zitternd dagesessen, während er seine Arme um sie legte, um sie zu wärmen. Schließlich war sie aufgesprungen und dann zu seiner Verwunderung in Gelächter ausgebrochen. »Du hast mich gerettet«, schrie sie. Und als sie wieder nach Hause kamen, erzählte sie jedem hochentzückt: »Osgar hat mir das Leben gerettet!« Sie war wirklich ein sonderbares Mädchen. Aber seit jenem Tag hatte er das Gefühl, ihr Beschützer zu sein, und das gefiel ihm auch nicht übel.
Abgesehen von kleinen Abenteuern dieser Art konnte er nicht gerade behaupten, dass sein Leben in den Jahren von der Kindheit bis zum Erwachsenwerden besonders ereignisreich gewesen wäre. Einmal war der irische König erschienen, um von den Nordmännern Tribut einzufordern, und hatte so lange außerhalb der Stadtwälle gelagert, bis er ihn erhielt; aber obwohl es dabei ein kurzes Scharmützel gegeben hatte, war dieses Abenteuer eher aufregend als Furcht einflößend gewesen. Osgars Leben hatte sich kaum von dem aller anderen Jungen unterschieden, die er kannte. Aber er hatte eine besondere Leidenschaft entwickelt. Schon als Kind amüsierte er die Erwachsenen damit, dass er von seinen Wanderungen am Strand mit Taschen voller Muscheln zurückkehrte, die er aufgelesen hatte. Zuerst war es nur ein kindliches Spiel, ein Aufheben von wunderlich geformten oder leuchtend bunten Muscheln, die ihm gefallen hatten. Dann begann er, seine Muscheln zu einer Sammlung zu ordnen, bis er ein Exemplar von jedem der verschiedenen Meerestiere besaß, dessen Schalen in der Gegend zu finden waren. Er bewunderte die Eleganz und Vielschichtigkeit, mit der jede Muschel ihre harmonische Ganzheit erreichte. Auch ihre Muster und Farben faszinierten ihn. Manchmal konnte er völlig versunken ganze Stunden seine Muschelsammlung betrachten und bemerkte dabei kaum, wie die Zeit verging. Schon bald fügte er ihr auch andere Objekte hinzu: gepresste Blätter, kuriose Steine, bizarr verknotete Äste von umgestürzten Bäumen. Er brachte sie alle mit nach Hause und studierte sie. Niemand teilte seine Sammelleidenschaft, sein Onkel amüsierte sich nur darüber. Selbst Caoilinn langweilte sich rasch, wenn er ihr von Zeit zu Zeit seine Schatztruhe zeigte.
Manchmal besuchte er auch eine der Kirchen von Dyflin. Hier gab es ein Psalmenbuch, das zwar nicht besonders prächtig war, aber eine Reihe hübscher Illustrationen enthielt; und da der Priester wusste, dass Osgar der Neffe des Abts des kleinen Klosters am Hang oben war, erlaubte er ihm, stundenlang darin zu blättern. Als Caoilinn sechzehn Jahre alt war, nahm Osgar sie mit und zeigte ihr einen Psalter mit grünen und goldenen Ornamenten.
»Siehst du«, sagte er, »wie das funkelt? Du hast das Gefühl, als ob du direkt in das Buch eintreten könntest wie in ein Haus, und sobald du drinnen bist, begegnest du….« – er suchte nach den richtigen Worten – »einer mächtigen Stille.« Er hatte sie heimlich von der Seite angeblickt und gehofft, in ihrem Gesicht einen Abglanz seiner eigenen Begeisterung zu finden. Aber sie lächelte nur flüchtig und wirkte schon wieder leicht ungeduldig. Nach einer Pause, die ihr angemessen schien, meinte sie: »Komm, gehn wir wieder hinaus.«
Äußerlich hatte sich Caoilinn sehr verändert. Aus dem dünnen kleinen Mädchen war eine dunkelhaarige junge Frau mit einer wohlgerundeten Figur geworden. Osgar hatte damit gerechnet, dass sich auch ihre Interessen ändern würden. Sie würde nun von häuslichen Dingen sprechen oder von dem feinen Stoff in der Auslage eines Tuchhändlers schwärmen lauter Dinge, die ihn selbst nicht sonderlich interessierten, von denen er aber wusste, dass Frauen sich gern darüber unterhielten. Aber stattdessen erkannte Osgar etwas in ihren Augen, etwas an ihrer gesamten Person, was anders war und was er erregend und leicht geheimnisvoll fand. Erst letztes Jahr, zum Lughnasa–Fest, hatte er erkannt, was es war.
Am Abend dieses alten traditionellen Festes hatten fast alle jungen Leute aus Dyflin, egal ob Iren oder nicht, stundenlang getanzt. Auch Osgar selbst war ein guter Tänzer. Mit Genuss hatte er einigen der reiferen Frauen zugesehen, wie würdevoll sie das Tanzbein schwangen. Aber als Caoilinn erschien und zu tanzen begann, hatte es ihm fast die Sprache verschlagen. Dass sie lebenslustig und anmutig war, wusste er. Aber nun sah er eine ganz neue Caoilinn vor sich, eine kraftvolle junge Frau, die voller Glut und Selbstvertrauen ihren Körper bald hierhin, bald dorthin schwang. Ihr Gesicht war leicht gerötet, ihre Augen glänzten, ihr Mund war zu einem strahlenden Lächeln geöffnet, in dem er einen Hauch von lockender Sinnlichkeit zu entdecken glaubte. Sie vollführte auch nur die Tanzschritte, die die jungen Männer rings um sie machten, aber als Osgar deren Gesichter beobachtete, meinte er zu sehen, dass sich etwas von Caoilinns Glut auf sie übertragen hatte. Und so hielt er sich eine Weile fern von dem Tanz und war fast ein wenig verlegen. Ist mir meine Cousine, so fragte er sich, vielleicht schon etwas zu irdisch und temperamentvoll?
Aber dann hatte sie ihn herbeigewunken, und plötzlich stand er vor ihr, spürte die Nähe ihres Körpers, ihre Glut und ihren betörenden Duft. Sie lächelte, als sie sah, wie gut er tanzte. Am Ende hatte er sich herabgebeugt und wollte sie auf die Wange küssen, aber sie küsste ihn zärtlich auf den Mund, und darauf sah sie ihm für einen kurzen Moment direkt in die Augen, und da erblickte er die grünäugige Caoilinn, die er sein Leben lang geliebt hatte. Dann lachte sie und kehrte ihm den Rücken zu.
An einem Sonntag im Frühling hatte Osgar mit ihrer gesamten Familie einen Ausflug gemacht. Sie waren nach Hoggen Green in der Nähe des alten Thingmount hinuntergewandert, und er hatte mit Caoilinn ein wenig abseits gestanden, als sie ihn plötzlich fragte:
»Erinnerst du dich noch, wie wir früher hier immer geheiratet haben?«
»Und ob.«
»Und hast du immer noch diesen Hirschhornring?«
»Ja, natürlich.«
Dann schwieg sie eine Weile.
»An meinen Ringfinger würde er jetzt nicht mehr passen«, sagte sie mit einem leisen Lachen. »Aber wenn ich heirate wer immer es sein wird, der mich heiratet würde ich ihn mir gern an meinen kleinen Finger stecken.« Sie lächelte zu ihm auf. »Versprichst du mir, dass du ihn mir zu meiner Hochzeit schenkst?«
Er sah sie zärtlich an und sagte: »Ich verspreche es.«
Er hatte verstanden. So entschlossen sie auch auftrat, konnte sie doch keinen Schritt weitergehen, ohne sich zu entwürdigen. Sie hatte ihm einen deutlichen Wink gegeben. Nun lag es an ihm, den nächsten Schritt zu tun.
Und jetzt stand ihr Vater hier vor ihm und sah ihn erwartungsvoll an.
»Wir werden uns nach einem Ehemann umsehen müssen«, sagte er noch einmal.
»Ach«, sagte Osgar.
»Ich hätte schon früher einen Mann für sie finden können«, betonte er. »An Angeboten herrschte kein Mangel. Aber ich hatte das Gefühl«, bohrte er weiter, »dass sie vielleicht auf dich wartet.« Er brach ab und schmunzelte Osgar ermunternd zu.
»Seit wir kleine Kinder waren, haben wir immer geheiratet«, sagte Osgar mit einem Lächeln.
»Ja, das habt ihr. Ihr habt also geheiratet«, sagte ihr Vater und wartete darauf, dass Osgar den Gedanken fortsetzte. Aber nichts geschah. »Jungen Männern«, fuhr er geduldig fort, »fällt es oftmals schwer, wenn der Zeitpunkt kommt, sich der Verantwortung der Ehe zu stellen. Sie bekommen Angst. Die Bindung kommt ihnen wie eine Falle vor. Und das ist nur natürlich. Aber dafür bietet sie auch Entschädigungen. Und mit Caoilinn…« Hier brach er ab und ließ Osgar sich ausmalen, welche Genüsse auf ihn warteten, wenn er mit seiner Tochter verheiratet sein würde.
»Oh, natürlich…«, stammelte Osgar.
»Aber wenn sie nicht zur rechten Zeit ihren Antrag machen« – er sah Osgar warnend an –, »dann könnten sie das Mädchen, das sie lieben, an einen anderen verlieren.«
Caoilinn an einen anderen verlieren? Ein entsetzlicher Gedanke.
»Bald komme ich zu euch und werde mit Caoilinn reden«, versprach Osgar, »schon sehr bald sogar.«
Warum, so fragte er sich, als ihr Vater gegangen war, hatte er eigentlich gezögert? War es nicht genau das, was er sich immer gewünscht hatte? Konnte es etwas Besseres geben, als mit Caoilinn in dem kleinen Kloster der Familie zu leben und für den Rest seines Lebens die geistlichen und fleischlichen Freuden zugleich zu genießen? Das war doch eine wahrhaft himmlische Aussicht!
Was vermisste er also? Was stimmte daran nicht? Auch er selbst wusste es kaum. Das Einzige, was er wusste, war, dass ihn seit einigen Monaten eine sonderbare Besorgnis quälte. Und zwar seit jenem Zwischenfall.
Dieser Besorgnis erregende Zwischenfall hatte sich um die Jahreswende ereignet. Er war über die Ebene der Vogelscharen zurückgeritten, nachdem er einem kleinen Kloster in der Gegend eine Nachricht von seinem Onkel überbracht hatte. Da es ein sonniger Tag war, hatte sich einer der Söhne seines Onkels entschlossen, zusammen mit einem Sklaven Osgar zu begleiten. In jenem Teil von Fingal gab es mehrere Wikinger–Gehöfte, umgeben von riesigen offenen Feldern, und sie hatten gerade eines überquert und waren in ein kleines Waldstück gelangt, als ihnen plötzlich ein Halbdutzend Männer aus dem Hinterhalt in den Weg sprangen.
Osgars Cousin hatte ein Schwert dabei, aber er selbst trug nur ein Jagdmesser bei sich. Er sah, wie sein Vetter mit seinem Schwert auf zwei der Männer einhieb und sie verwundete, aber nun stürzten zwei andere auf ihn zu. Der Sklave war bereits von seinem Pferd gerissen worden. Einer der Wegelagerer stand mit einem Knüppel über ihm. Er erhob ihn, holte zum Schlag aus…
Osgar wurde nie genau klar, was dann geschah. Ihm war, als flöge er durch die Luft. Sein Jagdmesser war aus der Scheide gerissen und lag in seiner Faust. Er landete auf dem Mann mit dem Knüppel. Sie stürzten zu Boden, kämpften miteinander, und im nächsten Moment war Osgars Messer dem Räuber durch den Brustkorb gestoßen, und der Kerl hustete und spuckte Blut. Inzwischen hatten die übrigen Räuber genug von diesem Kampf und rannten zwischen den Bäumen davon. Osgar wandte sich wieder dem Mann zu, den er erstochen hatte. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Ein paar Augenblicke später begann er zu zittern, dann durchfuhr ihn ein Schauder, und er rührte sich nicht mehr. Er war tot. Fassungslos starrte Osgar ihn an.
Sie ritten zu dem Hof zurück, an dem sie eben vorübergekommen waren. Der große rothaarige Herr des Hauses rief sofort seine Männer zusammen, um auf die Räuber Jagd zu machen. »Was für ein Jammer, dass mein Sohn Harold nicht hier ist«, sagte er, und sofort wurde Osgar klar, dass dies der hoch gewachsene Norweger sein musste, den er vor Jahren einmal am Thingmount gesehen hatte. Als Osgar sich vorgestellt hatte, war der große Wikinger entzückt. »Es ist eine Ehre für mich, einem Mann der Ui Fergusa zu begegnen«, rief er strahlend. »Du hast die Räuber tapfer zurückgeschlagen. Du kannst stolz auf dich sein.«
Als sie spät an jenem Abend zum Kloster zurückkehrten und von ihrem Abenteuer erzählten, gratulierte sein Onkel ihm ebenfalls. Am nächsten Morgen war die Geschichte in ganz Dyflin bekannt, und als er Caoilinn begegnete, war sie auf ihn zugetreten, hatte ihm die Hand geschüttelt und mit stolzem Lächeln ausgerufen: »Unser Held!«
Aber er fühlte sich überhaupt nicht wie ein Held. Ja, er hatte sich in seinem ganzen Leben nie so elend gefühlt. Und im Laufe der Tage verdüsterte sich seine Stimmung noch.
Er hatte einen Menschen getötet. Zwar war die Gewalt nicht von ihm ausgegangen. Er hatte getan, was er tun musste. Und doch verfolgte ihn das Gesicht des Toten mit seinen leblos starrenden Augen bis in die Nächte. Es erschien ihm in seinen Träumen, aber auch, wenn er wach war – bleich, grauenhaft und sonderbar eindringlich. Er nahm an, dass es nach einer Weile wieder verschwinden würde, aber es suchte ihn immer wieder heim; und schon bald begann er sich auch noch die verfaulende Leiche bildlich vorzustellen. Aber das Schlimmste war nicht so sehr die Erinnerung, als vielmehr die quälenden Gedanken, die sie begleiteten.
Abscheu und Ekel. So absurd es auch war, er erlebte all das Grauen, das er empfunden hätte, wenn er einen Mord begangen hätte. Niemals wollte er so etwas je wieder tun. Er schwor sich, nie wieder einen Menschen zu töten. Aber wie konnte man in einer Welt so voller Gewalt sicher sein, dass man einen solchen Schwur nicht eines Tages brechen müsste? Und mit dem Abscheu und dem Ekel ging noch ein anderer beunruhigender Gedanke einher.
Er selbst war nur um Haaresbreite dem Tod entronnen. Wie hätte sich sein kurzes Leben dann dargestellt? Ein paar wenige bedeutungslose Jahre, beendet durch einen Überfall, ausgelöscht, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort weilte. Zum ersten Mal wurde er sich seiner eigenen Sterblichkeit intensiv bewusst. Sein Leben musste doch irgendeinen tieferen Sinn aufweisen. Wenn er an jene Leidenschaft dachte, die ihn jedes Mal ergriff, wenn er die Formen der Natur oder die Buchillustrationen studierte, so hatte er das Gefühl, als würde ihm in dem eintönigen Alltagsleben, das er in Dyflin führte, etwas Wesentliches fehlen. Er sehnte sich nach mehr, nach etwas Bleibendem, das ihm nicht so sinnlos entrissen werden konnte. Er wusste nicht so recht, was es war; aber sein Unbehagen hatte ständig zugenommen, als würde ihm tief in seinem Innern eine Stimme zuflüstern: »Das ist nicht das wahre Leben. Dies ist nicht deine Bestimmung. Das ist nicht der richtige Ort für dich.« Er hatte sie immer wieder vernommen; aber er hatte nicht gewusst, was er tun sollte.
Und doch musste er sich nun entscheiden – sonst würde Caoilinn einen anderen heiraten. Der Instinkt sagte Osgar, dass seine Entscheidung für oder gegen die Ehe sein weiteres Leben festlegen würde. Wenn er Caoilinn jetzt heiratete, dann würde er sich mit Caoilinn in Dyflin niederlassen, Kinder großziehen und dort den Rest seines Lebens verbringen. Ein ehrbares Leben häuslicher Seligkeit. Eine verlockende Aussicht. Genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Oder nicht?
* * *
Eine Woche nach seinem Gespräch mit Caoilinns Vater kamen zufällig zwei Mönche an dem kleinen Kloster vorbei. Sie hatten sich einige Tage in Dyflin aufgehalten und waren auf dem Weg zurück in den Süden zu ihrem Kloster in Glendalough.
Ein einziges Mal hatte Osgar bisher das berühmte Kloster an den beiden Seen in den Wicklow–Bergen besucht. Er war damals noch ein kleiner Junge von acht Jahren, als sein Onkel ihn dorthin mitgenommen hatte. Es hatte ununterbrochen geregnet, und entsprechend hatte er sich gelangweilt. Aber nun, da er das Bedürfnis nach Abwechslung, aber auch nach Ruhe verspürte, damit er endlich zu einer Entscheidung gelangte, fragte er die Mönche, ob er sie nach Glendalough begleiten dürfe, und sie stimmten bereitwillig zu. Er meldete seinem Onkel, dass er in ein paar Tagen wieder zurückkehren werde, und machte sich zusammen mit den Mönchen auf den Weg.
Sie hatten sich für die untere Landstraße entschieden, die südlich der Liffey–Mündung an den Hängen der großen vulkanischen Berge entlangführte und wundervolle Aussichten nach Osten über die Küstenebene bot. Sie wanderten etwa zwanzig Meilen, bevor sie die Nacht über Rast machten und am nächsten Morgen ihren Weg, nun steiler bergan, fortsetzten. Der Vormittag war bereits zur Hälfte verstrichen, als sie an einer Biegung des Bergpfads eine Verschnaufpause einlegten. Einer der beiden Mönche winkte Osgar zu sich heran und deutete in die Ferne.
Über der Tiefe des schmalen Gebirgstals lag noch Morgennebel, und die bewaldeten Abhänge, die sich steil aus dem Wasser erhoben, schienen in den Wolken zu treiben. Die zwei kleinen Seen lagen unter dem Nebel verborgen, aber ringsum sah man die vom Tau nassen Baumwipfel aufragen. Osgar erkannte auch die Dächer mehrerer Gebäude aus Stein: die Hauptkirche, die sie die Abtei nannten, mit ihrem kleinen Türmchen; einige kleinere Kirchen, den hohen Bogen des Torhauses und ein paar kleine umliegende Kapellen. Und sie alle überragte, hundert Fuß weit in die Höhe strebend, der einsame Wächter über das ganze Tal, der berühmte Rundturm.
Das also war Glendalough – das »Tal der zwei Seen« –, das malerischste Kloster von ganz Irland. Etwa ein Jahrhundert nach Sankt Patricks Wirken war es von einem Eremiten namens Kevin gegründet worden.
Das Kloster lag vielleicht abgelegen, aber klein war es nicht. Schon das beeindruckende Tor zeugte von einer gewissen Macht. »Vergiss nicht«, gaben seine Gefährten ihm zu bedenken, »dass nicht nur der Abt, sondern auch der Bischof hier sein Haus hat, der die Aufsicht über die meisten Kirchen im Liffey–Tal führte.«
Und doch hatte Osgar, sobald sie durch den Torbogen in den ausgedehnten, von Mauern umschlossenen Bereich gelangt waren, mit einem Mal das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Auf dem grasbewachsenen Feld zwischen den beiden Wasserläufen, die sich unterhalb des kleineren Sees vereinigten, wirkte das Gelände des Klosters wie eine verzauberte Insel. Nachdem sie sich beim Prior gemeldet hatten, wurde einem der Novizen befohlen, den Gast herumzuführen.
Neben der großen Hauptkirche mit ihrem schmucken Portal gab es eine dem Sankt Kevin geweihte Kirche und eine Kapelle, die einem weiteren keltischen Heiligen gewidmet war. Sie besichtigten das Dormitorium, in dem viele der Mönche wohnten; manche der älteren, ranghöheren Mönche hatten jedoch nach keltischer Art kleine frei stehende eigene Zellen aus gezimmerten Balken und Flechtwerk auf dem Klostergelände.
Das eindrucksvollste Bauwerk im unteren Kloster war der riesige Turm. Andächtig ließen die beiden jungen Männer ihre Blicke hinauf zu seiner Spitze wandern. An der Basis maß der Turm sechzehn Fuß im Durchmesser, dann verjüngte er sich unmerklich bis zu seiner kegelförmigen Spitze hundert Fuß höher, und allein schon die Größe dieser mächtigen Röhre aus Stein ließ alles in ihrem Umkreis zwergenhaft klein erscheinen.
»Wir nennen ihn den Glockenturm«, erklärte der Novize. Osgar musste mit gequälter Miene an die bescheidene Handglocke denken, die die Mönche im Kloster seiner Familie zu den Gebeten rief. »Aber er ist auch ein Wachturm. Oben unter der Spitze befinden sich vier Fenster. Von dort aus kann man in alle Himmelsrichtungen blicken und jeden sehen, der sich nähert. Wenn ein Angriff droht, bringen wir alles Wertvolle in den Turm, und die meisten von uns haben auch darin Platz. Er hat sieben Stockwerke. Man gelangt nur über Leitern in ihn hinein.« Er zeigte zur Eingangstür, die sich zwölf Fuß über dem Boden befand und nur über eine schmale Holzleiter zu erreichen war. »Wenn die Tür einmal verrammelt ist, ist es fast unmöglich, in ihn einzudringen.«
»Wird Glendalough denn häufig angegriffen?«, fragte Osgar.
»In den letzten hundert Jahren von den Wikingern nur ein einziges Mal, glaube ich. Aber es gab andere Probleme. Um das Land hier haben sich verschiedene der kleineren Könige gestritten. Erst vor wenigen Jahren rückten sie an und richteten die Mühlen unten im Tal übel zu. Aber heute wirst du keine Spur mehr davon bemerken. Die meiste Zeit haben wir es hübsch ruhig hier.« Er grinste. »Wir drängen uns nicht auf für den Märtyrertod.« Dann wandte er sich um. »Komm, sieh dir nun das Scriptorium an.«
In diesem langen, niedrigen Gebäude war ein halbes Dutzend Mönche mit dem Kopieren von Texten beschäftigt. Manche Werke, so fiel Osgar auf, waren in lateinischer, andere in irischer Sprache verfasst. Voller Bewunderung sah er der kunstfertigen kalligrafischen Arbeit zu. Ein Mönch, der an einem Tisch in der Ecke saß, weckte seine besondere Neugier. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zeichnung, deren Umrisse bereits vollendet waren; nun begann er eine Ecke davon mit farbigen Tuschen auszufüllen. Osgars geschultes Auge erkannte überall raffinierte gegenständliche Anspielungen auf Formen aus der Natur, von der zarten Geometrie einer Kammmuschel bis zu den kräftigen Konturen des Astlochs einer knorrigen Eiche. Wie kompliziert das Ganze war und doch wie rein und klar. Hingerissen betrachtete er es und dachte, wie wundervoll es sein musste, sein ganzes Leben auf eine solche Art zu verbringen. Eine Weile hatte er so dagestanden, als der Mönch schließlich aufsah und ihnen einen finsteren Blick zuwarf, weil sie ihn bei seiner Arbeit störten.
»Komm«, sagte der Novize, als sie wieder ins Freie hinaustraten, »das Beste hast du noch nicht gesehen.« Und er führte Osgar auf einer kleinen Brücke über den Fluss und bog nach rechts auf einen Weg, der weiter talaufwärts führte.
»Wir nennen ihn den Grünen Weg«, erklärte er. Als sie den Unteren See hinter sich gelassen hatten, verengte sich das Tal. Zu ihrer Linken wurde der steile bewaldete Berghang fast zu einer Klippe, und Osgar hörte einen Wasserfall rauschen. Zu seiner Rechten bemerkte er einen grasbewachsenen Erdwallring von der Form eines kleinen Rath. Und als sie zwischen einigen Bäumen hindurchgeschritten waren, sagte sein Begleiter sanft:
»Nun tritt ein ins Paradies.«
Einen Augenblick hielt Osgar den Atem an. Der Obere See war breit und fast eine Meile lang. Wie sich seine ruhigen Wasser vor ihm zwischen den hohen, felsigen Abhängen dehnten, die durch die Bäume sichtbar wurden, schien es, als seien sie aus einem Eingang direkt vom Berg herausgetreten.
»Dort oben befindet sich Kevins Zelle.« Der Novize zeigte auf einen kleinen, runden, bienenhausförmigen Steinbau, der ein gutes Stück oberhalb des Ufers lag. »Und dort hinten«, er deutete in eine Richtung, wo Osgar den Eingang in eine winzige Höhle in einem Felsabfall über dem Wasser erkennen konnte, »ist Kevins Bett.« Die Stelle schien nur schwer erreichbar zu sein; der felsige Hang darunter war eine fast senkrecht abfallende Klippe. Tief unten, so fiel ihm auf, wucherten Sauerampfer und ein verfilztes Brennnesselgestrüpp. Sein Gefährte folgte seinem Blick und sagte schmunzelnd: »Manche Leute behaupten, dies sei die Stelle, wo sich der Heilige in die Nesseln gesetzt hat.«
Jedermann kannte die Geschichte aus Sankt Kevins Jugend. Als er von einem Mädchen in Versuchung geführt wurde, hatte der junge Einsiedler sie vertrieben, sich daraufhin nackt ausgezogen und sich in Brennnesseln gewälzt, um sich von seiner Fleischeslust zu heilen.
»Zum Beten pflegte er sich in das flache Wasser des Sees zu stellen«, erzählte der junge Mönch weiter. »Und manchmal stand er dort den ganzen Tag.«
Eine Weile standen die jungen Männer beieinander, ließen die Szene auf sich wirken, und Osgar hatte das Gefühl, als habe er in seinem ganzen Leben noch nie einen ähnlich vollkommenen Frieden erlebt. Und so hatte er das Läuten der Glocke, das unten vom Tal heraufdrang, kaum wahrgenommen, bis sein Begleiter ihn sanft am Arm zupfte und erklärte, dass es Zeit zum Essen sei.
Am nächsten Tag stellte er sich dem Abt vor. Er war ein hoch gewachsener, ansehnlicher Mann mit grau gelocktem Haar und von freundlicher, doch würdevoller Art. Er stammte aus einer bedeutenden Familie, kannte Osgars Onkel, hieß den jungen Mann herzlich willkommen und erkundigte sich, wie es um das Familienkloster stand.
»Und was hat dich zu uns nach Glendalough geführt?«
So gut er konnte, erklärte Osgar dem Abt seine Situation, sein Zögern vor seiner Heirat, sein Gefühl von Besorgnis und Ungewissheit; und er war sehr erleichtert, als er feststellte, dass der ältere Mann auf eine Art zuhörte, die darauf schließen ließ, dass er seine Sorgen und Nöte keineswegs für töricht hielt. Als er sich ausgesprochen hatte, nickte der Abt.
»Fühlst du dich zum religiösen Leben berufen?«
Fühlte er sich dazu berufen? Er dachte an sein Leben und an das kleine Kloster der Familie in der Nähe von Dyflin und an seine mögliche Zukunft dort. War es das, was der Abt mit dem religiösen Leben meinte?
»Ich glaube, ja, ehrwürdiger Vater.«
»Du glaubst also, wenn du heiratest, dann wird…« – der Abt überlegte einen Moment – »dann wird dich dies von dem Zwiegespräch ablenken, das du mit Gott führen möchtest?«
Osgar blickte ihn verwundert an. Auf diese Art hatte er den Gedanken noch nie formuliert, und doch entsprach es genau dem, was er fühlte.
»Ich fühle… ein Bedürfnis…« Er brach ab.
»Glaubst du nicht, dass dein Onkel Gott näher steht?«
Was sollte er darauf antworten? Er dachte an das unbekümmerte Familienleben seines Onkels, seine langen Ausflüge zum Angeln, seine häufigen Nickerchen inmitten der heiligen Messe.
»Nicht sehr«, antwortete er verlegen.
Sollte der Abt ein heimliches Schmunzeln unterdrückt haben, so hatte Osgar es nicht bemerkt.
»Dieses Mädchen«, fragte der Abt weiter, »diese Caoilinn, die du dich zu heiraten verpflichtet fühlst: Habt ihr jemals zusammen …« Er blickte Osgar heimlich von der Seite an und sah, dass er ihn nicht verstanden hatte. »Hast du sie jemals fleischlich erkannt, mein Junge?«
»Nein, ehrwürdiger Vater, nie.«
»Ich verstehe. Und sie jemals geküsst?«
»Nur ein einziges Mal, ehrwürdiger Vater.«
»Aber vielleicht hast du heimliche Gelüste?«, forschte der Abt weiter. Doch schließlich verlor er unverkennbar die Geduld mit dieser Art des Verhörs und meinte: »Natürlich hast du sie.« Dann hielt er inne und musterte den jungen Mann nachdenklich: »Glaubst du, dass es dir hier gefallen könnte?«
In diesem irdischen Paradies? In diesem Zufluchtsort im Gebirge auf halbem Weg zum Himmel?
»Ja«, antwortete er bedächtig, »das glaube ich.«
»Glaubst du nicht, es könnte dir hier oben in den Bergen vielleicht langweilig werden?«
»Langweilig?« Osgar starrte ihn erstaunt an. Er dachte an die verschiedenen Kirchen, an das Scriptorium, an die wundervolle Stille an dem großen See. Langweilig? Nein, dachte er, selbst in tausend Leben nicht. »Nein, ehrwürdiger Vater.«
»Aber der Weg des Geistes ist beschwerlich, verstehst du.« Der Blick des Abtes wurde etwas strenger. »Es geht nicht nur darum, ein Leben zu finden, das einem genehm ist. Früher oder später muss man in vielem Entsagung üben. Hier in Glendalough«, fuhr er fort, »haben wir strenge Regeln. Wir leben, so könnte man sagen, wie eine Gemeinschaft von Einsiedlern. Das Tor ist eng, und der Weg dahin ist schmal. Und«, fügte er bedächtig hinzu, »du wirst den Versuchungen des Fleisches nicht entgehen. Niemand entgeht ihnen. Der Teufel« – dabei schmunzelte er ironisch – »räumt so leicht nicht das Feld. Er stellt uns Versuchungen in den Weg: Du wirst sie besiegen müssen.« Dann hielt er inne. »Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Das vermag nur Gott. Doch ich werde für dich beten. Und auch du solltest beten.«
An diesem und dem nächsten Tag gesellte er sich bei allen Messen des Tages, die in der großen Kirche gesungen wurden, zu den Mönchen und verbrachte die übrige Zeit im Gebet.
Er versuchte die Anweisung des Abts zu befolgen. Er betete, versuchte seinen Geist von allen anderen Gedanken zu leeren und nur Gottes wortloser Stimme zu lauschen. Er bat darum, dass er ihm zeige, was seine Pflicht sei. Würde Gott zu ihm sprechen? Fast zwei Tage lang stellte er sich diese Frage, aber es kam keine Antwort.
Und doch, wie wunderlich war die Art, die Gott wählte, um seinen Willen zu offenbaren. Osgar stand gerade am Oberen See, als sich die Sonne am späten Nachmittag des zweiten Tages den Bergen zuneigte. Er war in den schönen Anblick der Landschaft versunken, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Er wandte sich um und blickte in das freundliche Gesicht eines der beiden Mönche, die ihn hierher gebracht hatten.
»Du hast also herausgefunden, was du willst?«, fragte der ältere Mann.
Osgar zuckte mit den Schultern.
»Was ich will, ist natürlich hier zu bleiben«, antwortete er, als sei dies nicht das wahre Problem.
Dann begriff er auf einmal. Die Sache war so einfach, dass er nicht darauf gekommen war. Er wollte in Glendalough bleiben und nirgendwo anders. Nie in seinem Leben hatte er sich irgendwo so sehr zu Hause gefühlt wie hier. Dies war der für ihn ausersehene Ort. Und Caoilinn? Sosehr er sie auch liebte, wusste er jetzt mit Gewissheit, dass er sie nicht heiraten wollte. Und hier – nun sah er es mit einem wundervollen Gefühl der Erleuchtung –, hier lag das Wunder des Ganzen: Gott in Seiner Güte hatte ihm nicht nur ein Gefühl der Dazugehörigkeit gesandt, sondern er hatte ihm sogar seine Sehnsucht nach dem Mädchen, das er liebte, genommen. Um ihm auf seinem Weg zu helfen, war diese alte Sehnsucht durch eine neue Sehnsucht ersetzt worden, nämlich eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Glendalough. Jetzt war er sicher. Das war seine Bestimmung. Er liebte Caoilinn noch immer so sehr, wie er sie früher geliebt hatte; aber diese Liebe musste nun die Liebe eines Bruders sein. Ja, so musste es sein. Er wusste, dass es unumgänglich war, dass er ihr Schmerzen bereiten würde, aber es wäre bei weitem grausamer gewesen, wenn er sie geheiratet hätte, ohne in der Lage zu sein, ihr sein ganzes Herz zu schenken. Eine Weile stand er da, starrte über das Wasser hinaus und war erfüllt von einem neuen Gefühl des Friedens und Verstehens. Noch am selben Abend teilte er dem Abt seinen Entschluss mit, und dieser nickte nur ruhig und enthielt sich jedes Kommentars.
Am nächsten Morgen verließ er Glendalough. Er hatte sich entschieden, auf dem direktesten Weg, der über das Hochland führte, zurückzukehren.
Es war später Nachmittag, als er auf seinem Abstieg am Nordrand der Berge an einer Lücke zwischen den Bäumen zum Verschnaufen stehen blieb. Die Nachmittagssonne fiel schräg von Westen her auf die Wasser des Liffey. Hinter der Flussmündung konnte er die große Sandbank in der Bucht und den Bogen des Landvorsprungs dahinter sehen. Er konnte die breiten Marschen sehen; er konnte das jenseitige Ufer am Ende der langen Holzbrücke über den Fluss sehen. Ja, er konnte sogar – oder war es eine Selbsttäuschung? – bereits die Mauern des kleinen Familienklosters erkennen. Für einen Augenblick vergaß er alles andere um sich her und fühlte sich plötzlich von gewaltiger Freude durchströmt. Und er hatte mehrere Minuten lang voller Zuneigung auf das Zuhause seiner Kindheit gestarrt, als ihn mit einem Schlag die Erkenntnis traf: Sobald er nach Glendalough ging, würde er von alledem getrennt sein. Getrennt für immer. Getrennt von der breiten Bucht, getrennt von seiner Familie, getrennt von Caoilinn. Und bei dem Gedanken an Caoilinn kamen ihm auf eine bedrängend lebendige Art Erinnerungen an das kleine Mädchen in den Sinn, das er seit jeher gekannt hatte: die Spiele, die sie miteinander gespielt hatten; wie er sie am Grab des alten Fergus immer geheiratet hatte; wie er sie aus dem Meer gerettet hatte. Und nun würde er sie nie mehr sehen, seine kleine Caoilinn, die eigentlich seine Frau hätte werden sollen.
Die immer noch seine Frau werden konnte!
Und da traf ihn wie ein Blitz die Erkenntnis: Das war die Prüfung. Gott hatte es ihm schließlich doch nicht so einfach gemacht. Er würde Caoilinn aufgeben müssen. Caoilinn, die er so sehr geliebt hatte und die er, Gott wusste es, glücklich und selig heiraten würde, wenn er nicht seine wahre Berufung gefunden hätte. Ja, dachte er, das ist sie. Das ist meine Entsagung.
Und mit einem neuen Gefühl von Hingabe, in dem sich Sehnsucht mit Schmerz und Freude mit Traurigkeit mischten, setzte Osgar seinen Weg nach Dyflin fort.
Am nächsten Tag traf er sich mit Caoilinn zur Aussprache. Schon recht früh klopfte er an die Tür ihres Elternhauses. Ihre Eltern und ihre ganze Familie waren noch da, und so fragte er sie, ob sie Lust hatte, einen Spaziergang mit ihm zu unternehmen. Die besorgte Miene ihres Vaters blieb ihm nicht verborgen. Osgar spazierte mit Caoilinn zum Thingmount hinaus. Und dort, am Grab des alten Fergus, nicht weit von den strömenden Wassern des Liffey, erzählte er ihr alles.
Auch wenn sie ein leicht überraschtes Gesicht machte, hörte sie ihm aufmerksam zu, während er ihr die Situation erklärte. Er erklärte alles: Wie sehr er sie liebte, das Gefühl der Ungewissheit, das ihn gequält hatte, seine Berufung zum mönchischen Leben. Er erklärte, so behutsam er konnte, dass er das Bedürfnis verspürte, nach Glendalough zu gehen, und dass er sich außerstande sah, sie zu heiraten. Als er zu Ende gesprochen hatte, schwieg sie eine Weile und starrte auf den Boden.
»Du musst tun, was in deinen Augen richtig ist, Osgar«, stammelte sie schließlich. Dann blickte sie mit ihren grünen Augen ein wenig sonderbar zu ihm auf: »Wenn du nicht nach Glendalough gehen würdest, dann würdest du mich also heiraten?«
»Von ganzem Herzen.«
»Ich verstehe.« Sie hielt einen Moment inne. »Aber was bringt dich auf den Gedanken, dass ich ›ja‹ gesagt hätte?«
Einen Augenblick starrte er sie überrascht an. Aber dann glaubte er begriffen zu haben. Natürlich versuchte sie, ihren Stolz zu wahren.
»Vielleicht hättest du nicht Ja gesagt«, antwortete er.
»Sag mir nur eins, Osgar« – sie wirkte aufrichtig neugierig –, »willst du mit allen Mitteln versuchen deine Seele zu retten?«
»Ja«, gestand er, »das will ich.«
»Und würdest du sagen, dass ich eine Chance habe, in den Himmel zu kommen?«
»Ich…« Er zögerte. »Ich weiß es nicht.« Darüber hatte er nie nachgedacht.
»Denn ich glaube nicht, dass ich eine Nonne werden will.«
»Das ist nicht notwendig«, versicherte er ihr. Und er begann ihr zu erklären, inwiefern ein guter Christ einen Platz im Himmel erlangen kann, wenn er seiner eigenen Berufung folgt. Aber er war nicht sicher, ob sie wirklich zuhörte. »Ich werde immer an dich denken«, sagte er dann. »Ich werde mich in meinen Gebeten deiner erinnern.«
»Danke«, sagte sie.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, schlug er vor.
Warum war ihm diese Aussprache so unbefriedigend vorgekommen, fragte er sich, während sie gemeinsam den Rückweg antraten, was hatte er sich erwartet? Heiße Tränen? Leidenschaftliche Liebesgeständnisse? Er wusste es selbst nicht genau. Es war, als sei sie in ihren Gedanken woanders gewesen, weit fort von ihm. Als sie den Eingang ihres Hauses erreichten, hielt sie inne.
»Es schmerzt mich sehr«, sagte sie ein wenig traurig, »dass dir Glendalough lieber ist als ich.« Und mit einem freundlichen Lächeln fügte sie hinzu: »Ich werde dich vermissen, Osgar. Wirst du mich hin und wieder besuchen kommen?«
»Ja, das werde ich.«
Sie nickte und blickte einen Moment lang zu Boden, doch dann blickte sie zu seiner großen Überraschung plötzlich mit einer Miene auf, die fast an ihren durchtriebenen Humor von früher erinnert hätte, wenn der Anlass nicht so ernst gewesen wäre, und fragte ihn:
»Verspürst du jemals fleischliche Gelüste, Osgar?«
Er war so überrascht, dass er zunächst nicht wusste, was er sagen sollte.
»Der Teufel führt uns alle in Versuchung, Caoilinn«, antwortete er leicht verlegen; dann küsste er sie zum letzten Mal keusch auf die Wange und entfernte sich.
Eine weitere Woche verstrich, bevor Osgar wieder nach Glendalough aufbrach. Sein Onkel war nicht gerade begeistert, meinte aber, dass er in absehbarer Zeit wohl wieder aus dem Kloster in den Bergen zurückkehren werde, um den ihm gebührenden Platz einzunehmen und dem Gesetz der Familie Folge zu leisten. Caoilinns Vater ließ es sich nicht nehmen, zu ihnen herauszukommen, machte gute Miene zum bösen Spiel, wünschte ihm Glück und erklärte sogar, dass er zur Stelle sein würde, um sich von ihm zu verabschieden, wenn er aufbrach; und Osgar war gerührt von dieser großzügigen Freundlichkeit. Caoilinn bekam er nicht mehr zu Gesicht, aber da sie sich bereits voneinander verabschiedet hatten, schien dies auch nicht notwendig zu sein.
An dem Morgen, als er aufbrach, entschloss er sich, der unteren Route zu folgen, anstatt den Weg durch die Berge zu nehmen. Und so machte er sich auf den Weg, mit einem Ranzen voll Proviant auf dem Rücken, mit einem Brief seines Onkels an den Abt, worin dem Kloster für seine Aufnahme eine hübsche Summe Geld versprochen wurde, sowie mit dem Segen von Freunden und Nachbarn versehen. Er stapfte querfeldein durch die Felder von Dyflin in südlicher Richtung. Sein Onkel hatte ihm ein Pferd angeboten, das ihn nach Glendalough bringen sollte und zu gegebener Zeit wieder zurückgesandt werden könnte, aber Osgar hatte es für angemessener gehalten, zu Fuß zu gehen.
Wieder war es ein herrlich sonniger Tag. In der klaren Morgenluft wirkte das gewaltige Halbrund der Wicklow–Berge im Süden zum Greifen nahe. Osgar wanderte mit fröhlich schwingenden Schritten an der Küste entlang auf die ersten Vorberge zu. Der sumpfige Boden zu seiner Linken wich bald schütterem Waldland. Er kam an einem Obstgarten vorüber und näherte sich gerade einer Furt über einen Fluss namens Dodder, als er zu seiner großen Überraschung Caoilinn am Wegesrand stehen sah. Sie lehnte an einem Baum und hatte sich in einen langen Mantel gewickelt. Wenn sie fror, dachte er, dann muss sie bereits eine ganze Weile dort gewartet haben. Sie lächelte.
»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte sie. »Ich dachte mir, du willst mich vielleicht noch einmal sehen, bevor du gehst.«
»Deinen Vater habe ich noch getroffen.«
»Ich weiß.«
»Das ist wirklich nett von dir, Caoilinn«, sagte er.
»Du hast Recht«, entgegnete sie, »das ist es.«
»Stehst du schon lange hier?«, fragte er. »Du musst doch frieren.«
»Ja, eine ganze Weile.« Sie blickte ihn nachdenklich an, so als habe sie irgendetwas mit ihm vor. »Hast du noch den Ring?«
»Natürlich habe ich ihn noch.«
Sie schien erfreut zu sein und nickte.
»Und du bist nun auf dem Weg, dich als Mönch in die Berge zurückzuziehen?«
»Ja, das bin ich.«
»Und dich haben wirklich niemals fleischliche Gelüste in Versuchung geführt, Osgar?«
»Nein. Zumindest nicht in letzter Zeit«, erwiderte er freundlich.
»Das ist gut. Denn du musst sie besiegen, verstehst du.«
Er überlegte gerade, was er sagen sollte, als sie zu seiner Verblüffung ihren Mantel aufschlug und ihr nackter Körper zum Vorschein kam.
Ihre Haut war rahmfarben blass, ihre Brüste waren jung und fest und etwas größer, als er angenommen hatte, die Brustwarzen umgeben von reichem Dunkel, so dass er unwillkürlich aufstöhnte. Sie war gänzlich nackt, und Osgar wusste nicht, wohin er blicken sollte. Und so starrte er auf ihren Schoß, auf ihre Schenkel, auf alles.
»Wirst du dich nun an mich erinnern, Osgar?«, fragte sie und schloss den Mantel.
Mit einem Aufschrei rannte er an ihr vorbei. Einen Augenblick später stürmte er spritzend durch die Furt. Am anderen Ufer blickte er sich um, hatte fast Angst, sie könnte ihm folgen. Aber nichts war von ihr zu sehen. Er bekreuzigte sich. Großer Gott, warum hatte sie das nur getan?
Als er weiterging, bemerkte er, dass er zitterte, als hätte er ein Gespenst gesehen; er konnte kaum glauben, dass das, was er erlebt hatte, tatsächlich geschehen war. Oder hatte er sich das alles nur eingebildet? Nein, sie war durchaus real gewesen. Was war nur in sie gefahren? War dies das Kind Caoilinn, das sich einen letzten wilden und verrückten Scherz erlaubte? Oder war es eine junge Frau, die es schmerzte, dass sie verstoßen wurde, und die nun versuchte, ihn zu schockieren und zu demütigen? Vielleicht beides. Und war er schockiert? Ja. Nicht von dem Anblick ihrer Blöße, sondern von ihrer Grobheit. Er schüttelte den Kopf. Das hätte sie nicht tun dürfen.
Erst als er weiter den Weg entlangrannte, wurde ihm bewusst, dass es noch eine andere, tiefer greifende Erklärung gab. Die Versuchungen des Fleisches. Wieder einmal der Teufel mit seinen Fallstricken. Der Abt hatte ihn gewarnt. Das war es, was sich in Wirklichkeit hinter dieser Begegnung verbarg. War er der Versuchung erlegen? Ganz gewiss nicht. Und doch tauchte, während er weiterging, zu seinem Entsetzen die Vision von Caoilinns nacktem Körper immer wieder vor seinem geistigen Auge auf. Er wusste kaum, ob er von Lust oder Angst gepeinigt wurde, er versuchte die Vision zu verscheuchen, aber bei jedem Versuch kehrte sie nur umso eindrücklicher zurück, ja noch schlimmer, nach einer Weile sah er, wie sie begann, unzüchtige Dinge zu tun – Dinge, von denen sie, so glaubte er, nicht einmal etwas wusste –, und je mehr er sich bemühte, sie aus seinem Geist zu verbannen, desto sündhafter wurden sie. Er versuchte zu der schlichten, reinen Nacktheit zurückzufinden, mit der alles begonnen hatte; doch vergebens. Je mehr er dagegen ankämpfte, desto brünstiger trieb sie es, wie er nun halb fasziniert, halb abgestoßen beobachtete.
Nein, das war nicht Caoilinn. Sie hatte all diese Dinge nicht getan. Nicht sie, sondern er war es, der sie sich in seiner Einbildung ausmalte; nicht sie, sondern er befand sich in den Fängen des Teufels. Ein glühendes Schuldgefühl ergoss sich über ihn, dann kalte Panik. Er blieb stehen.
Der Teufel hatte auf seinem Weg nach Glendalough einen Anschlag auf ihn vorbereitet. Wie sollte er ihm begegnen? Ein kurzes Stück vor sich bemerkte er eine Böschung, die mit Büschen bewachsen war, und unterhalb davon einen dunkelgrünen Flecken. Als er auf ihn zueilte, sah er, dass es genau das war, was er vermutet hatte – diese dunkelgrüne Vegetation war von Gott hierher gepflanzt worden, der in seiner Weisheit und Güte alles vorausgesehen hatte: Brennnesseln.
Denn was hatte Sankt Kevin von Glendalough getan, als ein Weib ihn in Versuchung führte? Das Mädchen fortgejagt und sein Fleisch kasteit. Und zwar mit Brennnesseln. Das musste ein Zeichen sein.
Osgar blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen. Und so entledigte er sich rasch seiner Kleider, warf sich in die Brennnesseln und wälzte sich ausgiebig, immer wieder, hin und her, so sehr er sich auch krümmte vor Schmerz.
* * *
Die Hochzeit von Harold und Astrid fand in jenem Winter statt. Sie war aus mehreren Gründen ein glücklicher Moment.
Der erste und allerwichtigste war, dass das junge Paar sichtlich gut zueinander passte. Und der zweite Grund war, dass sie unverkennbar ineinander verliebt waren.
Schon an dem Abend, als sie sich zum ersten Mal begegneten, war ein Funke zwischen ihnen übergesprungen. Aber Astrid hatte sofort erkannt, dass es Zeit und Mühe kosten würde, Harolds inneren Widerstand, seine Hemmungen zu überwinden. Daher war sie mit aller Geduld zu Wege gegangen. Sie hatte gefragt, ob sie das Schiff besichtigen durfte, und als er sie überall herumgeführt hatte, wollte sie auch, dass er ihr zeigte, was seine eigene Arbeit daran gewesen war, und hatte danach begeistert gemeint: »Du verstehst dein Handwerk gut, nicht wahr?« Eine Woche später hatte sich Astrid mit ihm getroffen, ihm ein paar in ein Tuch eingewickelte Bonbons überreicht und hoffnungsvoll dazu gesagt: »Ich glaube, es sind genau die, die du magst.« Und als er leicht überrascht geantwortet hatte, dass sie tatsächlich seine Lieblingsbonbons waren, hatte sie erklärt: »Das hast du mir nämlich an dem Abend bei Morann gesagt.« Er dagegen hatte es längst vergessen. »Ich fand einfach, du hast wieder mal welche verdient«, fügte sie hinzu und hatte dabei zärtlich seinen Arm berührt.
Astrid wartete noch drei weitere Wochen, bevor sie ihn eines Tages, als sie einen Ausflug machten, plötzlich ansah und wie nebenbei fragte: »Hast du Schmerzen in deinem Fuß?«
»Nein, eigentlich nicht«, hatte er geantwortet und mit den Schultern gezuckt. »Ich wünschte, er wäre gerade, aber er ist nun mal krumm«, hatte er gesagt und war verstummt.
»Mich stört das überhaupt nicht«, antwortete sie frei heraus. »Um die Wahrheit zu sagen« – und dabei erkühnte sie sich, ihm einen Moment lang direkt in die Augen zu sehen –, »mag ich dich gerade so, wie du bist.«
Aber der weiseste Schritt war der, den sie im dritten Monat ihrer Werbung umeinander wagte. Sie standen auf dem Holzquai und blickten auf den Fluss, wo nun das große Schiff vertäut lag, das Harold gebaut hatte. Da fragte sie ihn, was er in seinem Leben am liebsten einmal tun würde, mit anderen Worten, was sein Traum sei.
»Ich glaube«, gestand er, »einmal auf diesem Schiff in See zu stechen.« Er zeigte auf das Schiff, das schon bald zu einer Fahrt in die Normandie auslaufen sollte.
»Dann solltest du es tun«, meinte sie und kniff ihn ermutigend in den Arm. »Dann solltest du es wirklich tun.«
»Vielleicht.« Er zögerte, hätte sie beinahe angeblickt, aber er traute sich nicht. »Die Reisen dauern lang. Und die Meere sind gefährlich.«
»Ein Mann muss dem Ruf seiner inneren Stimme folgen«, meinte sie ruhig. »Du solltest zu einem Abenteuer weit über den Horizont hinaussegeln und bei deiner Rückkehr sehen, wie deine Frau dich auf dem Quai erwartet. Ich kann deutlich sehen, dass es so sein wird.«
»Kannst du das wirklich?«
»Du kannst es auch«, sagte sie unumwunden, »wenn du mich heiratest.«
Danach hatte es nicht mehr lange gedauert, bis Harold klar wurde, dass er Astrid heiraten wollte. Die Zeit, in der sie umeinander warben, war sehr fruchtbar gewesen. In ihm öffnete die Entdeckung, dass er von jemandem geliebt und geachtet wurde, sämtliche Schleusen seiner Leidenschaft. In ihr hatte der Umstand, dass er seine Hemmungen überwand, zu einem Wandel des Bewusstseins geführt, obwohl sie ihm nichts davon sagte: Zu Beginn war er der Mann, den sie beschlossen hatte zu lieben – und am Ende war er das Objekt eines intensiven Begehrens.
Außerdem hatte die Heirat den glücklichen Effekt, dass sie Harold wieder mit seiner Familie versöhnte. Zu behaupten, sie sei von der Braut hell begeistert gewesen, war stark untertrieben; und wenn es auf Harolds Seite noch einen verbleibenden Rest von nachtragender Verbitterung gegeben haben sollte, so war er nun viel zu glücklich, um sich im Augenblick darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Hochzeit wurde auf die alte heidnische Art draußen auf dem Hof der Familie gefeiert.
Nun einer machte auf der Hochzeit kein strahlendes Gesicht. Morann Mac Goibnenn war weiß Gott hocherfreut über das Glück seines Freundes. Sein Hochzeitsgeschenk für das Paar war eine silberne Schale gewesen, die er von eigener Hand mit Intarsien und Verzierungen versehen hatte; er und seine Familie waren vollzählig erschienen, um am Mahl und am Tanz des Hochzeitsfestes teilzunehmen. Aber während draußen festlich die Feuer loderten und die Gäste in einem fort in der Wikingerhalle ein und aus gingen, stand Morann die ganze Zeit stillschweigend abseits und hielt Wache. Aufmerksam beobachtete er alle Gäste, die erst spät zu dem Fest erschienen; er behielt die Straße und die Ebene der Vogelscharen im Blick; prüfend suchte er den Horizont in östlicher Richtung ab. Er spürte das lange Messer, das er griffbereit unter seinem Mantel verborgen hielt für den Fall, dass sich der dunkelhaarige Däne nähern sollte.
Morann schätzte es nicht, Risiken einzugehen. Sobald Harolds Hochzeit beschlossen war, hatte er ohne dessen Wissen Auskünfte über diesen Dänen eingeholt. So erfuhr er, dass er in Waterford in einen Kampf verwickelt gewesen war, sich bald darauf aus dem Staub gemacht hatte und nach Norden gesegelt war. Es ging das Gerücht, dass er und seine Leute sich auf die Isle of Man geflüchtet hatten. Wusste er etwas von Harolds Hochzeit? Womöglich war ihm etwas zu Ohren gekommen. Würde er nun herkommen, um sie zunichte zu machen? Bis nach Einbruch der Dunkelheit hielt Morann weiterhin Wache. Aber als im Morgengrauen schließlich alle aufbrachen, war immer noch nichts von Sigurd zu sehen gewesen.
Eine Woche nach dieser fand noch eine andere Hochzeit in Dyflin statt, die den beteiligten Familien ebenfalls große Freude bescherte. Seit einiger Zeit hatte Caoilinns Vater bereits mit den Eltern eines jungen Mannes aus der nahe gelegenen Siedlung Rathmines in Verhandlung gestanden. Seine Familie war nicht nur begütert, sondern er selbst stammte in nur vierter Generation von den Königen von Leinster ab. »Von königlichem Geblüt«, hatte Caoilinns Vater freudestrahlend verkündet; und so hatte er die Familie des Bräutigams unverzüglich wissen lassen, dass auch Caoilinn durch ihre entfernte Verwandtschaft mit Conall gleichfalls königliches Blut in den Adern hatte. Caoilinns Vettern von dem alten Rath unweit des Klosters waren natürlich alle bei der Hochzeit anwesend und sogar Osgar, der von Glendalough gekommen war und den die Braut mit einem ruhigen und züchtigen Kuss auf die Wange begrüßte. Osgars Onkel führte die kirchliche Trauung persönlich durch, und alle waren sich einig, dass Braut und Bräutigam ein äußerst hübsches Paar abgaben.
Aber alle waren sich ebenfalls einig, dass jener Moment den Höhepunkt der Hochzeit bildete, als der Mönch Osgar dem Paar ein unerwartetes Hochzeitsgeschenk überreichte. Es war in einer hölzernen Kiste verpackt.
»Das hat mein Vater immer wie seinen Augapfel gehütet«, erklärte er. Und mit einem verlegenen Lächeln fügte er hinzu: »Aber bei dir und deinem Mann ist es sicher besser aufgehoben als bei mir.«
Dabei zog er einen seltsamen, vergilbt elfenbeinfarbenen Gegenstand mit silberner Einfassung aus der Kiste. Es war der Trinkschädel des alten Fergus.
Caoilinn strahlte vor Freude.
Ihr entging nicht, dass Osgar, entweder aus Taktgefühl oder weil er es vergessen hatte, nicht sein Versprechen einlöste, ihr zur Hochzeit den kleinen Hirschhornring zu schenken. Aber davon sagte sie niemandem etwas.